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Nordhausen: Erster AfD-Oberbürgermeister in Deutschland?

11. September 2023

Erst ein Landrat in Thüringen, dann ein Bürgermeister in Sachsen-Anhalt. Nun ist die AfD drauf und dran, in Thüringen einen Oberbürgermeister zu stellen. Aus Nordhausen DW-Reporter Oliver Pieper.

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Nordhausen AfD Oberbürgermeister?
Im Stadtrat und im Kreistag von Nordhausen macht Jörg Prophet schon seit 2019 Politik, nun will er Oberbürgermeister werdenBild: Neven Hillebrands/DW

Offenbar denken viele in Nordhausen gerade so wie die junge Mutter, die zum ersten Mal ihr Kreuz bei der rechtspopulistischen AfD machen wollte. Es müsse sich endlich etwas ändern, sie müsse schließlich an die Zukunft ihrer Kinder denken, sagte sie kurz vor der Wahl am vergangenen Sonntag (10.09.2023).  In der Schule habe sie jetzt mehr Sprachen gehört als in Schweden im Urlaub. Und überhaupt, Nordhausen brauche endlich eine starke Persönlichkeit, welche die Stadt angemessen repräsentiere. Am Ende fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten: "Und? Habe ich jetzt einen Nazi-Stempel?"

Nach der Oberbürgermeisterwahl am Sonntag hat der AfD-Kandidat Jörg Prophet, Unternehmer und Chef der Fraktion im Stadtrat, mit Abstand die meisten Stimmen erzielt: 42,1 Prozent. Fünf weitere Kandidaten ließ er weit hinter sich. Prophet geht am 24. September in die Stichwahl gegen den parteilosen Amtsinhaber Kai Buchmann, der 23,7 Prozent erhielt.

Ein Sieg wäre für die Alternative für Deutschland der dritte kommunale Streich in Ostdeutschland: Den Landrat im thüringischen Sonneberg und den Bürgermeister in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt stellt sie schon. Eine Partei, deren Thüringer Landesverband vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird.

Verzweifelter Kampf gegen drohende Stigmatisierung

Alexandra Rieger von der SPD will einen AfD-Sieg mit aller Macht verhindern. In ihrem Wahlkreisbüro sagte sie vergangene Woche gegenüber der DW: "Diese Stadt hat das nicht verdient, wir sind nicht blau. Mit dem ersten AfD-Oberbürgermeister in Deutschland würden wir stigmatisiert. Ich kämpfe dafür, dass wir ein buntes Nordhausen bleiben."

Alexandra Rieger, SPD-OB-Kandidatin von Nordhausen
Bürgernähe als Konzept gegen das Erstarken der AfD - Alexandra RiegerBild: Neven Hillebrands/DW

"Rechtsextrem zu wählen wäre hier vor ein paar Jahren undenkbar gewesen und wäre verdeckt gehalten worden, jetzt ist es mittlerweile ein Trend", so Alexandra Rieger. "Wir bewegen uns leider von einer Krise in die nächste, und das ist auch das, was den Menschen einfach immer mehr Angst macht. Das Frustpotenzial ist hoch."

Attacken gegen die Grünen nehmen zu 

Wilma Busch, die für die Grünen im Stadtrat sitzt, kann ein Lied davon singen. Denn vor allem ihre Partei bekommt diesen Frust ab, ihr schlägt in Nordhausen oft die blanke Wut, sogar Hass entgegen. Das viel diskutierte Heizungsgesetz ist keine große Hilfe für den Wahlkampf, im Gegenteil. Auf der Straße um Stimmen zu werben kann dann sogar zu einem Spießrutenlauf werden.

"Die Polizei patrouilliert häufig an unserem Wahlkampfstand, Menschen brüllen uns aus vorbeifahrenden Autos an, das ist schon nicht ganz ohne. Die Fensterscheiben unseres Wahlkreisbüros werden regelmäßig bespuckt und beschmiert. Vor fünf, sechs Jahren gab es das noch nicht, aber jetzt gehört es zum Alltag", sagt sie gegenüber der DW.

AfD in Thüringen vom Verfassungsschutz beobachtet

Björn Höcke, der Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland in Thüringen, ist die Galionsfigur der AfD in Ostdeutschland. Und ein Politiker, der laut Gerichtsbeschluss als Faschist bezeichnet werden darf. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen ist Höcke so etwas wie der Elefant im Raum – denn natürlich geht die Bedeutung der lokalen Wahl weit über Nordhausen hinaus.

Robert Sesselmann mit Tino Chrupalla und Björn Höcke
Von links: Björn Höcke mit Robert Sesselmann, dem Landrat von Sonneberg, und AfD-Bundessprecher Tino ChrupallaBild: Jacob Schröter/IMAGO

Der AfD-Oberbürgermeisterkandidat Prophet hat sich im Wahlkampf nicht von Höcke distanziert, war sogar Gast und Redner beim Sommerfest des rechtsextremen "Compact"-Magazins mitten zwischen Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Neonazis. Vor allem die Migration ist ihm ein Dorn im Auge.

Geflüchtete und ausländische Studierende besorgt

Etwas, das beim Nordhäuser Verein Schrankenlos, der sich für Geflüchtete einsetzt, für großes Unbehagen sorgt. Denn Anfeindungen gehören bereits jetzt zum traurigen Alltag in Nordhausen. "Es werden rassistische Parolen skandiert, Hakenkreuze an die Wände eines Wohnhauses oder ein Café geschmiert. Traurige Krönung waren dann tote Tauben mit abgetrenntem Kopf, die vor Eingangstüren liegen, oder auch Schweineköpfe, die auf die Balkons geschmissen wurden", sagt Geschäftsführerin Stephanie Tiepelmann-Halm gegenüber der DW. 

Tiepelmann-Halm sieht Schrankenlos mit einem AfD-Oberbürgermeister in seiner Existenz bedroht. Auch für die ausländischen Studierenden an der Hochschule Nordhausen aus Indien, Pakistan, Ägypten und Nigeria ist die Wahl längst ein Thema. Bei den Studienbewerberinnen und Studienbewerbern geht laut Hochschulpräsident Jörg Wagner in Bezug auf die AfD die Angst um.

Gesucht: Ein Rezept gegen Rechtspopulismus

AfD versus Erinnerungspolitik

Wer fünf Kilometer nördlich aus Nordhausen herausfährt, geradeaus auf der Straße der Opfer des Faschismus, vorbei an einem verrosteten Waggon der Deutschen Reichsbahn als Mahnmal der Verschleppung von Häftlingen, erreicht die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Im Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald schufteten 60.000 Häftlinge aus 48 Nationen für den Bau von Hitlers Vergeltungswaffen, jeder dritte Häftling starb aufgrund unmenschlicher Arbeits- und Lebensbedingungen.

Anett Dremel, kommissarische Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, steht vor einer wieder aufgebauten Häftlingsbaracke und gibt das wieder, was viele ihr schreiben und sich fragen: Wie kann es sein, dass in unmittelbarer Nähe eines Konzentrationslagers bald ein AfD-Oberbürgermeister amtieren könnte? "Ich habe gerade eine E-Mail einer US-amerikanischen Angehörigen bekommen, die mich bat, sie auf dem Laufenden wegen der Wahl zu halten. Es gibt ein großes Unbehagen bei Überlebenden und Angehörigen. Die Menschen sehen natürlich die Plakate in der Stadt und fragen nach, was das bedeutet."

Anett Dremel
"Unser Rezept gegen die AfD ist Bildungsarbeit. Gedenken braucht Wissen" - Anett DremelBild: Neven Hillebrands/DW

In der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora ist gerade wieder eine Schulklasse zu Besuch und macht sich bereit für den 90-minütigen Rundgang über das ehemalige Lagergelände. Etwa 60.000 Besucherinnen und Besucher strömen jedes Jahr hierhin, aus Frankreich, Australien, den USA und anderen Ländern.

Ob diese Bildungsarbeit weiterhin so uneingeschränkt möglich wäre mit einem AfD-Oberbürgermeister Jörg Prophet in Nordhausen, der den 8. Mai 1945 nicht als "Tag der Befreiung" sehen mag, sondern "zunächst als Tag der bedingungslosen Kapitulation"? Unter einem Thüringer AfD-Chef Höcke, der eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert hat?

AfD-Parteitag in Magdeburg

Sehnsucht nach starker Führungspersönlichkeit

Noch ist nicht klar, ob sich die anderen Parteien in der Stichwahl hinter dem parteilosen Kai Buchmann versammeln, um einen Sieg der AfD zu verhindern - wie dies gerade in Seelow in Brandenburg mit einem breiten Bündnis von der CDU bis zu den Linken passierte. Dass aber diese Bündnisse gerade im Osten immer schwieriger gegen eine immer stärker auftrumpfende AfD werden, sei beileibe kein Zufall, sagt der Stadthistoriker Thomas Müller gegenüber der DW.

"Hier herrscht wie auch anderswo in Ostdeutschland eine Grundstimmung, dass die Menschen sehr unzufrieden sind und gerne eine starke Partei und eine starke Person hätten, die wieder Ordnung in diesen vermeintlich chaotischen Laden bringt", so der Stadthistoriker.

Historiker Thomas Müller
"Streit, Debatte, Diskussion, Diskurs - all diese Wörter sind in Ostdeutschland ziemlich negativ besetzt" - Thomas MüllerBild: Neven Hillebrands/DW

Sein Erklärungsansatz für die starke AfD: Viele Nordhäuser hätten ein Déjà-vu, dächten angesichts der Krisenstimmung zurück an die Wendezeit, als die sozialistische DDR aufhörte zu existieren.

Damals mussten fast alle Großbetriebe der Stadt dicht machen, die Menschen standen von einem Tag auf den anderen auf der Straße und vor dem Nichts. Auch jetzt, 30 Jahre später, sei wieder dieses diffuse Gefühl da, alles gehe den Bach runter. Und zu wenige würden begreifen, welche Konsequenzen ein AfD-Bürgermeister in Nordhausen tatsächlich hätte.

Dieser Artikel erschien erstmals am 07.09.2023 und wurde am 11.09.2023 nach dem ersten Wahldurchgang aktualisiert.

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur