Wagner: "Künstler wie rohe Eier"
25. September 2013DW: Was war vor zehn Jahren die Initialzündung gewesen, ein Festival aus dem Nichts zu schaffen?
Nike Wagner: Ein Konzept für diese Stadt zu machen war nicht sehr schwierig. Ich habe das 18. Jahrhundert weitgehend besetzt. Goethe, Schiller und tutti quanti, aber das 19. Jahrhundert hat den größten Musiker zu verzeichnen, das ist Franz Liszt. Erst wollte ich ein reines Liszt- Festival machen. Dann habe ich mir doch überlegt, zwar sehr viel Liszt zu spielen, aber doch mehr im Geiste. Im innovativen Geist von Franz Liszt zu arbeiten und ein Mehrsparten- Festival zu machen und das hat sich dann auch bewährt.
Franz Liszt, Ihr Ur-Urgroßvater, ist ein Rätsel. Eigentlich Salonlöwe, vielleicht Rampensau… auch introvertiert, depressiv, auch der Nachwelt zugewandt. Wie haben Sie ihn jetzt erlebt und welche Intensivierung mit den Ahnen haben sie erlebt?
Ich glaube auch, dass Franz Liszt mit seinen vielen Facetten rätselhafter ist als man meint. Weil ich ihn zum "Local Hero" meines Festivals gemacht habe musste ich mich ausgiebig mit seinen Werken beschäftigen, seiner Biographie und den Zeitumständen. Das hat mir gut getan. Da ich in Bayreuth aufgewachsen bin stand immer Richard Wagner im Mittelpunkt meines Lebens. Aber die Beziehung Liszt-Wagner ist ein sehr spannendes Thema in der Musikgeschichte.
Ich habe Franz Liszt sehr lieben gelernt. Was mir an ihm gefällt ist die Freiheit seines Geistes. Er fliegt immer davon - mehr musikalisch gesprochen. Er soll ja ein genialer Improvisator gewesen sein, und ich finde, irgendwie merkt man das seinen musikalischen Schöpfungen an. Er ist nicht nur ein Reisender in Europa gewesen, sondern eben auch ein Reisender durch viele Stile.
Man sagt ihm nach, ein grenzgängerischer, absolut kompromissloser Künstler gewesen zu sein. Würden Sie das auch so sagen?
Ja, unbedingt. Für ihn ging es immer um Kunst, Kunst, Kunst. Alles andere kam danach. Mit seinem Engagement versuchte er bei der sozialen Sicherung der Künstler zu helfen. Es ist schon phantastisch, wenn man die Figuren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtet, die unablässig über Kunst reden, so als würde das tägliche Leben von Dienstboten erledigt. Und nur Kunst ist ein Thema.
Kunst macht aus den Menschen bessere Menschen. Aber wir erleben auch in der Geschichte, dass Leute, die wir nicht so gerne mögen, dieselbe Musik wie wir mögen…
Ich denke, sie spielen jetzt eher auf die Verwendung von Richard Wagner im Dritten Reich an. Auch die Schurken waren große Wagnerianer, das bleibt ein irritierendes Faktum, das ist ganz klar. Aber selbst sinfonische Musik kann missbraucht werden. Sie wissen, dass die Nationalsozialisten Le Prelude von Franz Liszt benutzt haben. Vollkommen irrtümlich. Sie hätte jeden anderen Fanfarenstoß nehmen können.
Ist das denn ein Klischee zu sagen, dass Musik oder Kunst aus uns wirklich bessere Menschen macht?
Also Franz Liszt hätte das bestimmt bejaht. Goethe auch… Es gibt diese humanistische Utopie. Ich denke es im Grunde auch, aber es muss wohl zwiespältig bleiben.
Gibt es diese Qualitäten heute noch, also jene der absoluten Kunst zugewandte Kompromisslosigkeit?
Das glaube ich schon, wenn wir uns unter zeitgenössischen Komponisten umschauen. Man findet es durchaus. Sonst wären sie nicht so weit gekommen.
Ein Wort zu Ihrer Werk- und Künstlerauswahl...
Das sind im Prinzip die "artists in residence" der letzten zehn Jahre. Die ersten vier Jahre hatte ich András Schiff engagiert, weil er einfach einer der größten Musiker unserer Zeit ist. Deswegen habe ich ihn und die Capella Andrea Barca beibehalten. Dadurch konnte ich auch sehr viele Kammermusikwerke aus einem Pool schöpfen. Dann habe ich versucht, einen Wechsel bei den Instrumenten zu machen. Zuerst hatten wir das Klavier, warum dann nicht mal die Bratsche? Bratschenliteratur ist riesig, und Tabea Zimmermann ist eine geniale Bratscherin, so hatten wir ganz wunderbare Konzerte. Dann kamen wieder Pianisten, Markus Hinterhäuser und Marino Formenti. Das sind Pianisten, die sich vor allem um das zeitgenössische Repertoire kümmern, noch mehr als András Schiff. Insofern war es wieder eine andere Facette.
Die nächsten "artists in residence" waren Carolin Wittmann zusammen mit ihrem Bruder, dem Klarinettisten Jörg Wittmann. Das Geschwisterthema hatte mich begeistert, wir hatten Violine und Klarinette. Dann kam Pierre-Laurent Aimand, ein grandioser Pianist mit einem sehr weit gespannten Repertoire mit starkem Akzent auf dem Zeitgenössischen. Am Schluss dachte ich, es müsse ein Kammermusikensemble her. Dann habe ich lange gesucht, denn es gibt viele erstklassige Quartett-Formationen. Am besten gefiel mir das Quatuor Diotima, weil sie das breiteste Repertoire haben, und sie hervorragende Musiker sind. So etwa ist die Auswahl entstanden.
Was braucht man, um mit den ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten umzugehen?
Künstler muss man lieben, heilig halten. Wie rohe Eier behandeln, alles für sie tun. Denn sie stehen am Abend auf dem Podium und müssen alles geben mit dem Risiko des Versagens. Dieses extreme "auf Händen tragen", das wir praktiziert haben, hat sich bewährt. Die Künstler gehen hinaus und erzählen das auf anderen Festivals, und auf anderen Festivals scheint es ihnen zu wiederfahren, dass sie den Intendanten oft selbst nicht zu Gesicht bekommen. Das war hier anders.
Nike Wagner ist Ur-Urenkelin von Franz Liszt und Ur-Enkelin von Richard Wagner. Nach ihrem Studium schrieb sie wissenschaftliche und publizistische Beiträge für Symposien, Kulturprogramme und den Rundfunk in Deutschland, Österreich, England und Frankreich und trat auch als Buchautorin hervor. 2004 übernahm sie die künstlerische Gesamtleitung des Weimarer Kunstfests. Ab dem 1. Januar 2014 tritt sie die Nachfolge von Ilona Schmiel als Intendantin des Bonner Beethovenfestes an.