Neuwahlen wegen Koalitions-Krise in Deutschland?
3. November 2024Zuletzt sorgte Bundesfinanzminister Christian Lindner mit einem Grundsatzpapier zur Wirtschaftspolitik für neuen Streit in der Regierungskoalition. Darin fordert der Chef der liberalen FDP eine "Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen" - mittels Steuersenkungen für Unternehmen, der Lockerung von Klimavorgaben und der Reduzierung von Subventionen und Sozialleistungen. Die Sozialdemokraten von Bundeskanzler Olaf Scholz und die mitregierenden Grünen kritisieren Lindners Vorstoß scharf.
Der Finanzminister selbst spricht von einer Indiskretion: Das Papier sei noch gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Die Diskussion ist aber voll im Gange - vor allem die Opposition verlangt immer lauter vorgezogene Neuwahlen. Dann würde die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages schon vor dem regulären Termin (28. September 2025) neu bestimmt.
Normalerweise finden die Bundestagswahlen alle vier Jahre statt. Aber in besonderen politischen Krisensituationen - vor allem, wenn der Rückhalt des Bundeskanzlers im Parlament erschüttert ist - kann früher abgestimmt werden.
Neuwahlen sind in der Bundesrepublik Deutschland äußerst selten. Sie können aber ein wichtiges demokratisches Mittel sein, um die Legitimität und Handlungsfähigkeit der Regierung wiederherzustellen, bedürfen jedoch der Zustimmung mehrerer Verfassungsorgane, insbesondere des Bundespräsidenten.
Neuwahlen nur in zwei Fällen möglich
Nach dem Grundgesetz dürfen die Bundestagabgeordneten selbst keine vorzeitigen Neuwahlen des Bundestags beschließen. Auch der Bundeskanzler kann das nicht entscheiden. Stattdessen erlaubt das Grundgesetz die vorzeitige Auflösung des Bundestages nur in zwei Fällen.
Wenn nach einer Wahl des Kanzlers keine absolute parlamentarische Mehrheit erzielt wird - das heißt, wenn ein Kandidat nicht mindestens eine Stimme mehr als die Hälfte aller Abgeordneten erhält - kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen. Dies ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht eingetreten.
Im zweiten Fall stellt der Kanzler dem Bundestag die Vertrauensfrage. Sie ermöglicht ihm zu überprüfen, ob er noch die nötige Unterstützung der Abgeordneten hat. Falls die Mehrheit dem Kanzler das Vertrauen entzieht, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Kanzlers den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflösen.
Drei Neuwahlen in der Geschichte der Bundesrepublik
Sobald der Bundestag aufgelöst ist, müssen die Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen stattfinden. Die Organisation erfolgt nach den gleichen Prinzipien wie bei üblichen Bundestagswahlen. Für ihre Durchführung sind die Bundeswahlleitung und das Bundesministerium des Innern verantwortlich. Die Wähler haben zwei Stimmen, eine für einen Direktkandidaten und eine für die Landesliste einer Partei.
In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bisher drei vorgezogene Bundestagswahlen, und zwar in den Jahren 1972, 1983 und 2005.
Wegen seiner Ostpolitik: Brandt stellt erstmals die Vertrauensfrage
1972: Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hatte seine Ostpolitik zur Entspannung der Beziehungen mit Osteuropa vorangetrieben, was innenpolitisch stark umstritten war. Das führte zu so großen Differenzen auch in der sozialliberalen Koalition, dass mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete die Koalition verließen. Die Regierungsmehrheit war damit restlos zusammengeschrumpft: 248 Abgeordnete umfassten die Fraktionen von SPD und FDP im Bundestag, 248 Abgeordnete gehörten der oppositionellen CDU/CSU an.
Das Patt im Bundestag lähmte die Politik. Brandt suchte nach einem Weg, klare politische Verhältnisse zu schaffen. Die Bürger, sagte der Bundeskanzler am 24. Juni 1972, hätten einen "Anspruch darauf, dass auch weiterhin in der Gesetzgebung kein Stillstand eintritt". Doch wachse die Gefahr, "dass sich die Opposition konstruktiver Mitarbeit grundsätzlich versagt. Deshalb teile ich mit, dass wir Neuwahlen anstreben."
Dafür musste Brandt die Vertrauensfrage stellen, woran es heftige Kritik gab - auch von Seiten der Verfassungsrechtler: Eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage entspräche nicht dem Geist des Grundgesetzes, so wurde argumentiert. Brandt hielt an seinem Vorhaben fest und stellte am 20. September 1972 die Vertrauensfrage, die er - wie von ihm erhofft - verlor. Das machte den Weg frei zur Auflösung des Bundestages und zur Neuwahl am 19. November 1972, bei der Brandt wiedergewählt wurde. Die SPD erhielt mit 45,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis. Die Wahlbeteiligung lag bei 91,1 Prozent, der bis heute höchste Wert in der Geschichte der Bundestagswahlen.
Nach Regierungswechsel: Kohl lässt Regierung zusätzlich legitimieren
1983: Die zweite vorgezogene Bundestagswahl wurde von Helmut Kohl (CDU) herbeigeführt. Kohl war im Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den damaligen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) ins Amt gekommen. Die Mehrheit des Bundestages hatte Schmidt wegen Differenzen über dessen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kurs das Vertrauen entzogen.
Weil Kohls christlich-liberale Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP jedoch durch dieses Misstrauensvotum und nicht durch eine Wahl an die Macht gekommen war, wollte sich Kohl durch Neuwahlen zusätzlich legitimieren lassen. Er stellte die Vertrauensfrage, verlor sie am 17. Dezember 1982 wie zuvor Brandt absichtlich und erreichte so die Auflösung des Bundestages. "Ich habe den Weg zu Neuwahlen eröffnet, um die Regierung zu stabilisieren und eine klare Mehrheit im Bundestag zu erhalten", sagte Kohl damals.
Einige Abgeordnete wollten das nicht hinnehmen und reichten Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Nach 41-tägiger Verhandlungszeit billigten die Karlsruher Richter zwar Kohls Weg zu Neuwahlen durch das gezielte Herbeiführen einer Abstimmungsniederlage über die Vertrauensfrage. Zugleich betonten sie aber, dass die Vertrauensfrage nur in einer "echten" Krise zulässig sei. Bei den Neuwahlen, die am 6. März 1983 stattfanden, wurde der Bundeskanzler im Amt bestätigt und seine Regierung setzte die Arbeit mit klarer Mehrheit fort.
Neuwahlen wegen umstrittener Reformen: Schröder verkalkuliert sich
2005: Für die dritten Neuwahlen war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. Dessen Partei, die in Koalition mit den Grünen regierte, hatte mit einer Serie von Landtagswahl-Niederlagen und dem schwindenden Rückhalt im Bundestag zu kämpfen - besonders wegen seiner umstrittenen Agenda 2010-Reformen, die das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt drastisch veränderten. Schröder stellte die Vertrauensfrage, die er am 1. Juli 2005 gezielt verlor, und initiierte somit Neuwahlen.
"Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der Deutschen will, dass ich diesen Weg weitergehe. Aber nur durch eine Neuwahl kann ich die notwendige Klarheit gewinnen", erklärte Schröder. Doch sein Kalkül ging nicht auf: Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 erreichte die CDU/CSU unter Angela Merkel eine knappe Mehrheit. Merkel wurde schließlich Kanzlerin und Chefin einer Koalition aus Union und SPD. Es war der Beginn ihrer 16-jährigen Regierungszeit.