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Neuwahlen in Deutschland: Der Weg aus der politischen Krise

Veröffentlicht 3. November 2024Zuletzt aktualisiert 6. November 2024

Bundeskanzler Olaf Scholz will am 16. Dezember die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag stellen. Damit würde er den Weg für Neuwahlen freimachen. Ein Ausweg, um politische Stabilität wiederherzustellen?

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Deutschland | Christian Lindner, Robert Habeck und Olaf Scholz auf der Regierungsbank
Oktober 2024: Die Bundesminister Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne) mit Kanzler Olaf Scholz (v.l.n.r.) auf der RegierungsbankBild: Frederic Kern/Geisler-Fotopress/picture alliance

Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist nach knapp drei Jahren im Amt gescheitert. Bundeskanzler Olaf Scholz will am 16. Dezember die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag stellen. Damit käme es zu Neuwahlen - voraussichtlich am 23. Februar 2025.

Normalerweise finden die Bundestagswahlen alle vier Jahre statt. Aber in besonderen politischen Krisensituationen - vor allem, wenn der Rückhalt des Bundeskanzlers im Parlament erschüttert ist - kann früher abgestimmt werden.

Der Plenarsaal des Bundestag mit mehreren Stuhlreihen vor der Rednertribüne.
Der Deutsche Bundestag: In Krisensituationen kann er vor Ablauf seiner regulären vierjährigen Amtszeit neu gewählt werdenBild: Jens Krick/Flashpic/picture alliance

Neuwahlen sind in der Bundesrepublik Deutschland äußerst selten. Sie können aber ein wichtiges demokratisches Mittel sein, um die Legitimität und Handlungsfähigkeit der Regierung wiederherzustellen, bedürfen jedoch der Zustimmung mehrerer Verfassungsorgane, insbesondere des Bundespräsidenten.

Neuwahlen nur in zwei Fällen möglich

Nach dem Grundgesetz dürfen die Bundestagabgeordneten selbst keine vorzeitigen Neuwahlen des Bundestags beschließen. Auch der Bundeskanzler kann das nicht entscheiden. Stattdessen erlaubt das Grundgesetz die vorzeitige Auflösung des Bundestages nur in zwei Fällen.

Wenn nach einer Wahl des Kanzlers keine absolute parlamentarische Mehrheit erzielt wird - das heißt, wenn ein Kandidat nicht mindestens eine Stimme mehr als die Hälfte aller Abgeordneten erhält - kann der Bundespräsident den Bundestag auflösen. Dies ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht eingetreten​.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht hinter einem Rednerpult. Hinter ihm stehen die Deutschland- und EU-Fahnen.
Frank-Walter Steinmeier: Bei vorgezogenen Neuwahlen spielt der Bundespräsident eine zentrale RolleBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Im zweiten Fall stellt der Kanzler dem Bundestag die Vertrauensfrage. Sie ermöglicht ihm zu überprüfen, ob er noch die nötige Unterstützung der Abgeordneten hat. Falls die Mehrheit dem Kanzler das Vertrauen entzieht, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Kanzlers den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflösen.

Drei Neuwahlen in der Geschichte der Bundesrepublik

Sobald der Bundestag aufgelöst ist, müssen die Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen stattfinden. Die Organisation erfolgt nach den gleichen Prinzipien wie bei üblichen Bundestagswahlen. Für ihre Durchführung sind die Bundeswahlleitung und das Bundesministerium des Innern verantwortlich. Die Wähler haben zwei Stimmen, eine für einen Direktkandidaten und eine für die Landesliste einer Partei.

In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bisher drei vorgezogene Bundestagswahlen, und zwar in den Jahren 1972, 1983 und 2005.

Wegen seiner Ostpolitik: Brandt stellt erstmals die Vertrauensfrage

1972: Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hatte seine Ostpolitik zur Entspannung der Beziehungen mit Osteuropa vorangetrieben, was innenpolitisch stark umstritten war. Das führte zu so großen Differenzen auch in der sozialliberalen Koalition, dass mehrere SPD- und FDP-Abgeordnete die Koalition verließen. Die Regierungsmehrheit war damit restlos zusammengeschrumpft: 248 Abgeordnete umfassten die Fraktionen von SPD und FDP im Bundestag, 248 Abgeordnete gehörten der oppositionellen CDU/CSU an.

Willy Brandt 1972 vor den Mikrofonen im Deutschen Bundestag
Deutscher Bundestag am 20. September 1972: SPD-Bundeskanzler Willy Brandt stellt die VertrauensfrageBild: picture alliance/dpa

Das Patt im Bundestag lähmte die Politik. Brandt suchte nach einem Weg, klare politische Verhältnisse zu schaffen. Die Bürger, sagte der Bundeskanzler am 24. Juni 1972, hätten einen "Anspruch darauf, dass auch weiterhin in der Gesetzgebung kein Stillstand eintritt". Doch wachse die Gefahr, "dass sich die Opposition konstruktiver Mitarbeit grundsätzlich versagt. Deshalb teile ich mit, dass wir Neuwahlen anstreben".

Dafür musste Brandt die Vertrauensfrage stellen, woran es heftige Kritik gab - auch von Seiten der Verfassungsrechtler: Eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage entspreche nicht dem Geist des Grundgesetzes, so wurde argumentiert. Brandt hielt an seinem Vorhaben fest und stellte am 20. September 1972 die Vertrauensfrage, die er - wie von ihm erhofft - verlor. Das machte den Weg frei zur Auflösung des Bundestags und zur Neuwahl am 19. November 1972, bei der Brandt wiedergewählt wurde. Die SPD erhielt mit 45,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis. Die Wahlbeteiligung lag bei 91,1 Prozent. Es ist der bis heute höchste Wert in der Geschichte der Bundestagswahlen.

Nach Regierungswechsel: Kohl lässt Regierung zusätzlich legitimieren

1983: Die zweite vorgezogene Bundestagswahl wurde von Helmut Kohl (CDU) herbeigeführt. Kohl war im Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den damaligen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) ins Amt gekommen. Die Mehrheit des Bundestages hatte Schmidt wegen Differenzen über dessen wirtschafts- und sicherheitspolitischen Kurs das Vertrauen entzogen.

Weil Kohls christlich-liberale Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP jedoch durch dieses Misstrauensvotum und nicht durch eine Wahl an die Macht gekommen war, wollte sich Kohl durch Neuwahlen zusätzlich legitimieren lassen. Er stellte die Vertrauensfrage, verlor sie am 17. Dezember 1982 wie zuvor Brandt absichtlich und erreichte so die Auflösung des Bundestages. "Ich habe den Weg zu Neuwahlen eröffnet, um die Regierung zu stabilisieren und eine klare Mehrheit im Bundestag zu erhalten", sagte Kohl damals.

Bundeskanzler Kohl hält ein Mikrofon in der Hand, neben und hinter ihm stehen Journalisten und Parteikollegen
1983: Bundeskanzler Helmut Kohl (M.) in der Parteizentrale der CDU in Bonn nach Bekanntgabe des vorläufigen WahlergebnissesBild: Ossinger/dpa/picture alliance

Einige Abgeordnete wollten das nicht hinnehmen und reichten Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Nach 41-tägiger Verhandlungszeit billigten die Karlsruher Richter zwar Kohls Weg zu Neuwahlen durch das gezielte Herbeiführen einer Abstimmungsniederlage über die Vertrauensfrage. Zugleich betonten sie aber, dass die Vertrauensfrage nur in einer "echten" Krise zulässig sei. Bei den Neuwahlen, die am 6. März 1983 stattfanden, wurde der Bundeskanzler im Amt bestätigt und seine Regierung setzte die Arbeit mit klarer Mehrheit fort.

Neuwahlen wegen umstrittener Reformen: Schröder verkalkuliert sich

2005: Für die dritten Neuwahlen war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verantwortlich. Dessen Partei, die in Koalition mit den Grünen regierte, hatte mit einer Serie von Landtagswahl-Niederlagen und dem schwindenden Rückhalt im Bundestag zu kämpfen - besonders wegen seiner umstrittenen Agenda 2010-Reformen, die das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt drastisch veränderten. Schröder stellte die Vertrauensfrage, die er am 1. Juli 2005 gezielt verlor, und initiierte somit Neuwahlen.

Auf dem Wahlplakat mit dem Porträtfoto von Schröder steht "Kraftvoll. Mutig. Menschlich." geschrieben. Bei Merkel steht "Ein neuer Anfang"
2005: Wahlplakate mit Bildern von SPD-Kanzler Gerhard Schröder und der CDU-Kanzlerkandidatin Angela MerkelBild: Stefan Sauer/dpa/picture alliance

"Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der Deutschen will, dass ich diesen Weg weitergehe. Aber nur durch eine Neuwahl kann ich die notwendige Klarheit gewinnen", erklärte Schröder. Doch sein Kalkül ging nicht auf: Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 18. September 2005 erreichte die CDU/CSU unter Angela Merkel eine knappe Mehrheit. Merkel wurde schließlich Kanzlerin und Chefin einer Koalition aus Union und SPD. Es war der Beginn ihrer 16-jährigen Regierungszeit. 

Der Text wurde erstmals am 3. November veröffentlicht und um die neuesten Entwicklungen aktualisiert. 

Ralf Bosen, Redakteur
Ralf Bosen Autor und Redakteur