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Politik

Neue Freiheiten: Der Iran nach der Wahl

26. Mai 2017

Die Präsidentenwahl im Iran hat die Menschen mobilisiert. Die tiefen Gräben zwischen dem Alltag der Bevölkerung und dem offiziellen Wertesystem der Islamischen Republik sind aufgebrochen. Grenzen beginnen zu fallen.

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Iran Präsidentschaftswahlen - Feier
Ausgelassene Feiern mit Tanz und Musik: Rohanis Anhänger nach seinem SiegBild: ILNA

"Meine neunjährige Tochter ist aus der Schule nach Hause gekommen und hat gefragt: Mama, ist Herr Raeissi ein Mörder?" Zahra ist noch immer fassungslos. Sie wusste nicht, was sie ihrer Tochter antworten sollte, erzählt die junge Mutter aus Teheran der Deutschen Welle. Aber eines wusste sie genau: "Für solche Fragen wären wir früher im Gefängnis gelandet."

Ein Tabu ist gebrochen worden in diesem Präsidentschaftswahlkampf im Iran, der am 19. Mai mit der Wiederwahl des gemäßigten Amtsinhabers Hassan Rohani endete. Ans Licht gekommen ist ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der Islamischen Republik, in dem Rohanis erzkonservativer Herausforderer Ebrahim Raeissi eine Hauptrolle spielt. Er war 1988 an Massenhinrichtungen beteiligt, bei denen mehrere tausend mutmaßliche Regimegegner ermordet wurden, viele ohne Gerichtsurteil. Im vergangenen August tauchte plötzlich eine Tonaufnahme aus dem Jahr 1988 im Internet auf, auf der zu hören ist, wie Raeissi sich für die Hinrichtung von 200 weiteren politischen Gefangen einsetzt.

Weder Raeissi noch die anderen damals Verantwortlichen aus der Justiz sind öffentlich auf das Thema eingegangen. Das Regime hielt still. In den Medien gab es sogar ein Interview mit der Mutter eines der Ermordeten - früher undenkbar. "Das hat unser Bewusstsein geschärft. Es hat viele bewegt", freut sich Zahra aus Teheran. Der politische Dialog ist ein kleines bisschen liberaler geworden - fürs erste.

Massenhinrichtung politischer Gefangener im Jahre 1988 ist kein Tabuthema mehr. Viele Iraner fragen sich nun: Warum wurde sie hingerichtet?
Gedenken fast drei Jahrzehnte später - Bilder von Opfern der Massenhinrichtungen 1988Bild: picture-alliance/NurPhoto/S. Hosseini

Zahra ist eine religiöse Frau. Doch bei den Präsidentschaftswahlen hat sie nicht etwa Ebrahim Raeissi gewählt, der in der religiösen Hierarchie weit oben steht. Der Kleriker aus Teheran genießt die Unterstützung der mächtigen Revolutionsgarde und wird von manchen sogar als Nachfolger von Irans oberstem Führer Ajatollah Ali Chamenei gehandelt. Der hat ihm vergangenes Jahr die Leitung über den wichtigsten Schrein der Schiiten im Iran übertragen, das Grab von Imam Reza in Maschhad. Dort hatte Raeissi seinen Wahlkampf begonnen.

Genützt hat ihm das nichts: Zahra etwa hat Rohani gewählt und nicht "diesen Raeissi, der mir Angst macht. Ich habe es satt zuzusehen, wie die Religion ausgenutzt wird." Wie Zahra dachten viele Iraner - über 57 Prozent haben für Rohani gestimmt, gut 38 Prozent für Raeissi.

Selbstbewusste Frauen

Raeissi hatte im Wahlkampf nicht nur mit der Religion aufs falsche Pferd gesetzt. Er hat auch die Dynamiken in den sozialen Medien unterschätzt - und die Frauen. Als er zu seiner Meinung über Frauenrechte befragt wurde, antwortete er stolz: "Ich haben meiner Frau erlaubt zu studieren" - und löste damit einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken aus. Tenor: Wir kann er stolz sein auf etwas, das selbstverständlich sein sollte? Zwar gibt es Gesetze, die Männern erlauben, ihren Frauen ein Studium zu verbieten - es gibt aber auch eine starke Frauenbewegung, die solche Gesetze ändern will und mehr politische Mitsprache fordert. Und bereits jetzt sind 50 Prozent der Universitätsabsolventen weiblich.

Hamun
Die südöstliche Provinz Sistan und Belutschistan - auch hier fand Rohani große ZustimmungBild: Tasnim

Selbstbewusste Frauen lassen sich längst nicht mehr zurückdrängen. "Raeissis Anhänger waren aggressiv und haben uns auf der Straße bedroht. Nach der Wahl zeigen wir Euch, wo's langgeht, haben sie gesagt", erzählt die 35-jährige Friseurin Shirin aus Teheran. "Ich bin so froh, dass Raeissi nicht gewählt wurde. Er wollte uns ins Mittelalter zurückversetzen. Aber nicht mit uns!"

Dass sich das Rad nicht mehr zurückdrehen lässt, zeigt auch die Wahl von Homeira Rigi in der Provinz Sistan und Belutschistan. Sie ist dort zur ersten Gouverneurin der Islamischen Republik Iran bestimmt worden.

 

In Sistan und Belutschistan erzielten die Frauen auch deutliche Fortschritte bei den Lokalwahlen für die Stadträte, die gleichzeitig mit der Präsidentenwahl stattfanden. Von etlichen tausend Plätzen haben Frauen 415 erobert - drei Mal mehr als vor vier Jahren.

Die Provinz im Südosten des Iran an der Grenze zu Pakistan und Afghanistan ist wirtschaftlich benachteiligt, Dürre und Wassermangel beeinträchtigen die Landwirtschaft, die Bevölkerung lebt sehr traditionell. Und selbst hier haben 73 Prozent der Wähler für Rohani gestimmt, obwohl Raeissi ihnen versprochen hatte, die Subventionen zu verdreifachen.

Tanzende Jugend  

"Wir sind glücklich! Am glücklichsten war ich, dass wir auf der Straße tanzen durften", sagt Friseurin Shirin lachend im Gespräch mit der DW. Nach Rohanis Wahlsieg hatten tausende Menschen auf den Straßen mit westlicher Musik gefeiert - eine weitere Grenze, die sie eingerissen haben. Und das sogar in der heiligen Stadt Maschhad, in der Ajatollah Ahmad Alamolhoda, der Schwiegervater Ebrahim Raeissis, vergangenes Jahr Konzerte verboten hatte. 

Raeissi selber hatte unfreiwillig die Partystimmung angeheizt. Denn zwei Tage vor der Wahl, als die Umfragen einen deutlichen Sieg Rohanis vorhersagten, wollte er junge Wähler mobilisieren und traf sich dafür mit dem vorbestraften Rap-Star Amir Tataloo. 

Amir Tataloo war 2016 wegen "Verbreitung westlicher und unislamischer Sittenlosigkeit" zu fünf Jahren Haft und 74 Peitschenhieben verurteilt worden. Er symbolisiert alles, was die konservativen und religiösen Wähler für falsch halten. Raeissi ließ ein Video seines Treffens mit Tataloo online stellen, in dem er ihn lobte: "Ich höre deine Lieder und finde manche sogar ganz gut." Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien - etliche User fragten Raeissis Kinder, ob sie wüssten, was ihr Vater für Musik höre.

Doch auch dieser Schuss ging für Raeissi nach hinten los. Denn Tataloo hat zwar Millionen Anhänger im Iran. Aber zwei Drittel von ihnen sind zu jung, um wahlberechtigt zu sein. Stattdessen fragen jetzt viele Nutzer in den sozialen Netzwerken feixend, wann Amir Tataloo in der heiligen Stadt Maschhad auftreten wird.

Wie weit die Grenzen der konservativen Ajatollahs verschoben worden sind, zeigt das Lied, das viele Menschen nach Rohanis Sieg auf der Straße sangen: "Yâre Dabestânie Man", "Mein Schuldfreund". Seit 35 Jahren steht es symbolisch für den Freiheitskampf der Studenten im Iran - niemals hätten sie es früher öffentlich singen und dazu tanzen dürfen. "Hand in Hand müssen wir diese Schleier zerreißen", heißt es in der letzten Zeile, "wer außer uns kann dieses Leid beenden?"

Das Ergebnis der Wahlen scheint vielen Menschen im Iran den Glauben an friedliche und demokratische Veränderungen zurückgegeben zu haben.