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Netanjahus umstrittener Besuch in Washington

Janelle Dumalaon
21. Juli 2024

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu wird am Mittwoch vor dem US-Kongress in Washington sprechen: Mitten im Gaza-Krieg, begleitet von Protesten in den USA und Israel und dem Boykott einiger demokratischer Politiker.

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Netanyahu blickt links an der Kamera vorbei, in der rechten Bildhälfte ist die israelische Flagge zu sehen
Israels Premierminister Benjamin NetanyahuBild: Cohen-Magen/REUTERS

Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das bisher letzte Mal vor dem US-Kongress sprach, schimpfte er über eines der wichtigsten diplomatischen Projekte der Obama-Regierung, das Atomabkommen mit dem Iran - und belastete damit die Beziehungen zum Weißen Haus. Neun Jahre später wird Netanjahu wieder im Kapitol der Vereinigten Staaten erwartet - die Spitzen beider Parteien im US-amerikanischen Parlament hatten ihn dazu eingeladen. Und dieses Mal sind die Begleitumstände sogar noch angespannter. 

Das Timing könnte nicht schlechter sein, sagt Barbara Slavin, Journalistin und Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika beim Stimson Center, einem Thinktank in Washington. "Er wird Biden beschämen, weil er auftaucht, ohne einem Waffenstillstand (in Gaza) zugestimmt zu haben", glaubt Slavin. "Das wird viele, viele Amerikaner sehr wütend machen, die ohnehin schon aufgebracht sind wegen der Ereignisse im Nahen Osten."

Es sei einfach nicht der richtige Zeitpunkt, meint Slavin. "Vielleicht wäre es anders, wenn er vor Monaten einen Waffenstillstand akzeptiert und der Wiederaufbau in Gaza begonnen hätte. So ist es einfach eine unglaubliche Chuzpe, eine Dreistigkeit, sich in Washington blicken zu lassen."

Netanjahu: Die "Wahrheit über unseren gerechten Krieg"

Die Biden-Regierung steht im In- und Ausland in der Kritik, weil sie versucht, einen Mittelweg zu gehen: Einerseits unterstützt sie mit Israel einen ihrer wichtigsten Verbündeten. Andererseits ermöglicht sie es, dass Netanjahu einen Krieg führt, der eine schwere humanitäre Krise verursacht sowie - nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums - 38.000 Tote im Gazastreifen gefordert hat. Israel und die militante Hamas befinden sich im Krieg, seit die islamistische Terrororganisation am 7. Oktober 2023 Israel angegriffen und nach israelischen Angaben rund 1200 Israelis getötet und 251 Geiseln genommen hat. Die Hamas wird von Israel, den USA, Deutschland, der Europäischen Union und einigen arabischen Staaten als terroristische Organisation eingestuft.

Zu sehen sind Männer in Kampfuniformen, mit Helmen und schusssicheren Westen, Netanjahu zeigt auf einen Uniformierten
"Unser gerechter Krieg": Israels Premier Benjamin Netanjahu bei israelischen Soldaten in Rafah im GazastreifenBild: Avi Ohayon/Israel Prime Minister's Office/AP/picture alliance

Als Reaktion auf die Einladung, vor dem Kongress zu sprechen, sagte Netanjahu, er werde versuchen, "den Vertretern des amerikanischen Volkes und der gesamten Welt die Wahrheit zu präsentieren über unseren gerechten Krieg gegen jene, die uns zerstören wollen". Allerdings sind rund um Netanjahus Besuch massive Proteste geplant. Mehrere demokratische Kongressmitglieder haben zudem angedeutet, dass sie seine Rede boykottieren werden. Das gilt insbesondere für Mitglieder des Congressional Progressive Caucus, einer linken Parteigruppierung. Sie hatten bereits in den vergangenen Monaten starke Kritik an Israel formuliert.

Joe Biden und Benjamin Netanjahu sitzen mit ernsten Gesichtern vor mehreren abwechselnd aufgereihten Flaggen ihrer beiden Nationen
Einst unverbrüchliche Verbündete: US-Präsident Joe Biden (l) und Israels Premier Benjamin Netanjahu (r) im Oktober 2023Bild: Miriam Alster/UPI Photo/imago images

Netanjahu will seine Botschaft allerdings nicht nur an den Kongress richten, argumentiert Jon Alterman, Direktor des Nahostprogramms beim Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. "Er hat zwei Zielgruppen im Kopf. Die eine ist das amerikanische Publikum, denn er will mehr Unterstützung für Israel im Kongress. Dann denkt er auch an sein heimisches Publikum. Viele Israelis sind verärgert darüber, wie der Krieg verläuft. Sie sorgen sich um die Geiseln. Und diesen Menschen will er demonstrieren, dass er die Beziehungen zwischen Israel und den USA nicht zerstört hat, wie es ihm einige seiner politischen Kritiker vorwerfen. Was das Weiße Haus denkt, interessiert Netanjahu viel weniger."

USA-Israel-Beziehungen: Die Basis bröckelt

Mehrere Schlüsselereignisse haben die Kluft zwischen den Regierungen in Washington und Jerusalem in den vergangenen Monaten vertieft. Zum Beispiel, als das Weiße Haus bestimmte Waffen nicht mehr geliefert hat, weil es besorgt war wegen Israels Offensive in Rafah. Zum Beispiel, als Netanjahu in einem Video behauptet hat, dass Washington noch weit mehr Unterstützung zurückhalte, als es öffentlich zugebe. Zum Beispiel, weil der israelische Premier sich immer noch weigert, einer von den USA unterstützten Feuerpause zuzustimmen.

Palästinensische Flaggen und Pappschilder mit politische Forderungen über den Köpfen von Menschen vor dem Zaun des Weißen Hauses
Proteste gegen den Krieg in Gaza: Demonstranten vor dem Weißen Haus in WashingtonBild: Jose Luis Magana/AP/picture alliance

Als die Spitzen von Senat und Repräsentantenhaus Netanjahu eingeladen haben, so vermutet Barbara Slavin, erwarteten sie wohl, dass sich die Rahmenbedingungen bis jetzt verbessert haben würden - was nicht der Fall ist. "Die Erwartung war offenbar, dass es Ende Juli - nach neun Monaten Krieg - einen Waffenstillstand gäbe und Pläne für die Zeit danach", erläutert Slavin. "Stattdessen verlässt sich Netanjahu immer noch ausschließlich auf seine Rechtsaußen-Koalition. Diese führt nicht nur diesen abscheulichen Krieg in Gaza weiter, sondern verschlingt auch immer größere Teile des Westjordanlandes, damit dort niemals ein palästinensischer Staat entstehen kann."

Die Sorge über eine - von den USA klar abgelehnte - Ausweitung des Krieges spielt ebenfalls eine große Rolle. Dazu trägt bei, dass sich Israel und die vom Iran unterstützten Hisbollah-Milizen an der israelisch-libanesischen Grenze immer härtere Feuergefechte liefern.

Enttäuschung und Proteste in Israel

Netanjahus Reise nach Washington wird auch in seiner Heimat sehr genau beobachtet. Ein von 500 israelischen Akademikerinnen und Akademikern unterschriebener Brief drängt den US-Kongress, Netanjahu wieder auszuladen. Wenn er auftreten dürfe, vermindere das "den öffentlichen Druck der internationalen Gemeinschaft auf Netanjahu, den Geisel-Deal anzunehmen, der auf dem Tisch liegt". Seit Monaten laufen indirekte Gespräche zwischen Israel und der Hamas, bei denen Ägypten, Katar und die USA vermitteln. In Israel haben Oppositionelle in der Knesset auch gefordert, dass Netanjahu entweder im US-Kongress dem Geisel-Deal zustimmt - oder gar nicht nach Washington reist.

Eine Person hält ihre Hände mit den Innenseiten in Richtung Kamera, auf den Handinnenflächen steht "Stop the war"
Gegenwind für Netanjahu auch zu Hause: Demonstration gegen den Gazakrieg und für die Freilassung der Geiseln in Tel AvivBild: Ohad Zwigenberg/AP/picture alliance

Maya Roman, die eine Angehörige in Gefangenschaft der Hamas hat, glaubt eigentlich nicht, dass Netanjahu sich danach richtet - dennoch hofft sie darauf. Sie will, dass der Geisel-Deal im Rampenlicht bleibt und ist deshalb für Netanjahus Rede bis nach Washington gereist. "Er wird über unsere Qualen sprechen und was wir durchgemacht haben. Und das ist alles wahr und es ist wichtig, daran zu erinnern. Aber wenn er so etwas sagt, ohne dass er sich für einen Deal einsetzt, dann erweist er uns einen Bärendienst."

Maya Roman ergänzt empört: "Er nimmt unseren Schmerz und nutzt ihn für seinen Vorteil, nicht für unser Ziel, unsere Lieben zurückzubringen. Alles, was wir seit dem 7. Oktober durchgemacht haben, diese furchtbare Tortur, sollte er nur dafür einsetzen dürfen, um unsere geliebten Menschen nach Hause zu holen."

Netanjahu spielt auf Zeit

Jon Alterman vom CSIS erklärt, dass Netanjahu mit seiner Reise auch ein ganz praktisches Ziel verbinde. Er kämpfe um sein politisches Überleben und wolle jede Bedrohung seiner Führungsrolle in der Heimat hinauszögern. Darum liege der Besuch auch kurz vor der dreimonatigen Parlamentspause: die Knesset gehe in die Sommerferien und dann in die jüdische Feiertagszeit. Und sie werde erst kurz vor den Präsidentschaftswahlen in den USA wieder zusammenkommen. Es sei sehr schwer, eine Regierung zu stürzen, wenn die Knesset nicht tage, so Alterman.

USA: Pro-palästinensische Proteste an Unis weiten sich aus

Jenseits dieses umstrittenen Washington-Besuchs sehen Expertinnen und Experten auch andere Hinweise, dass die jahrzehntelang etablierte solide Basis der US-amerikanisch-israelischen Beziehungen ins Rutschen gerät. Dass einige Demokraten die Netanjahu-Rede boykottieren wollen, illustriert den Bruch in der traditionell geschlossenen Unterstützung beider Parteien für Israel. Und die Proteste an den Universitäten gegen den Krieg in Gaza sehen manche Beobachter als Vorbote eines generationsbedingten und ideologischen Wandels in der Wahrnehmung Israels.

"Junge Leute erinnern sich nicht an ein mutiges kleines Israel, das um seine Existenz kämpft. Sie kennen nur ein Israel, das Palästinenser tötet. Darum sehen sie keinen demokratischen Verbündeten. Sie sehen kein Land, mit dem wir Werte teilen", erklärt Barbara Slavin. "Ich glaube, Israel läuft wirklich Gefahr, eine Generation in den USA zu verlieren. Wir mögen die Auswirkungen nicht sofort erkennen, aber wir sehen sie in fünf, zehn oder 20 Jahren."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Janelle Dumalaon US-Korrespondentin@janelledumalaon