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'Unbeschreibliche Geschichte'

Das Gespräch führte Martin Schrader14. Januar 2009

Bitterfeld galt einmal als dreckigste Stadt der DDR. Das war gestern. 20 Jahre nach dem Mauerfall beschäftigen die Menschen in Bitterfeld ganz andere Themen, wie Bürgermeister Horst Tischer erzählt.

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Copyright: Stadt Bitterfeld-Wolfen
Bürgermeister Horst Tischer (r.) zeigt Besuchern 'sein' BitterfeldBild: Stadt Bitterfeld-Wolfen

DW-WORLD.DE: Herr Tischer, wie beurteilen Sie die Entwicklung von Bitterfeld seit dem Mauerfall?

Horst Tischer: Um es ganz deutlich zu sagen: Es ist eigentlich eine unbeschreibliche Geschichte! Man muss ja daran erinnern, dass Bitterfeld zum Zeitpunkt der Wende den Ruf der schmutzigsten Stadt hatte. Und wenn man heute unsere Region mit der damaligen Zeit vergleicht, ist es fast unglaublich, was sich entwickelt hat.

Ganz ohne negative Seiten?

Diese Entwicklung hat natürlich nicht nur positive Seiten. Wir hatten zur Zeit der Wende ungefähr 75.000 Arbeitsplätze. Von denen ist der größte Teil weggebrochen. Aber wir sind heute bei einer stattlichen Zahl von rund 40.000 bis 45.000 Arbeitsplätzen. Wir haben die Chemie rekonstruieren können.

Das reicht den Menschen in Bitterfeld?

Natürlich ist auch der Anspruch der Menschen gestiegen, so dass also eine reine Zufriedenheit nicht zu verzeichnen ist. Aber ich sage mal, Ungeduld und Forderung nach mehr können ja auch positiv wirken.

Welches sind die besten Beispiele, die zeigen, was Bitterfeld in diesen knapp 20 Jahren gewonnen hat?

Bayer-Werk in Bitterfeld Copyright: Stadt Bitterfeld-Wolfen
Bayer-Werk im ChemieparkBild: Stadt Bitterfeld-Wolfen

Der Chemiepark ist ja ein Zusammenschluss der beiden großen Branchen von damals hier vor Ort, der Chemie und der Filmindustrie. Beide Betriebsgelände, eine riesige Fläche, sind vollkommen saniert worden. Alle giftigen Elemente wurden beseitigt, und es wurde Platz geschaffen für neue Industrieansiedlungen.

Zum Beispiel?

Wir haben so große Ansiedlungen wie die Bayer AG, die hier für uns alle bestens bekannt das Aspirin produziert. Daneben Betriebsteile, in denen Farbgrundstoffe und ähnliches produziert wird. Wir haben ein großes amerikanisches Flachglaswerk. Und wir haben etlichen Kleinbetrieben Tür und Tor geöffnet.

Wie schneidet die Umwelt dabei ab?

Ein Beispiel für Bitterfelds Entwicklung ist die Renaturierung der Goitzsche. Dieses große Tagebau-Restloch ist heute geflutet - wenn da auch die Flut in Jahr 2002 etwas nachgeholfen hat. Bitterfeld ist also heute eine Stadt am See.

Sie haben bereits gesagt, etliche Arbeitsplätze seien verloren gegangen. Was hat Bitterfeld noch verloren in den vergangenen 20 Jahren, dem sie nachtrauern?

Natürlich ist es so, dass Menschen, die unsere Region verlassen, die Flexibelsten sind und die Beweglichsten, auch die am besten Ausgebildeten und die Jüngsten. Die Überalterung, die in so einer Region dadurch mit einzieht, ist ein Punkt, der uns ein bisschen betrübt. Aber wir merken durch die Neuansiedlungen, zum Beispiel im Solar Valley (Gründung des Solarzellen-Unternehmens Q-Cells, Anm. d. Red.), dass natürlich wieder Leute herkommen, die hier ihre Arbeit finden.

Bitterfeld hat sich 2007 mit einigen Nachbar-Gemeinden zu Bitterfeld-Wolfen zusammengeschlossen. Warum?

Diese Fusion schwirrte schon eine Weile durch unsere Köpfe. Wir hatten ja immer auch von der Region Bitterfeld-Wolfen gesprochen, lange bevor die Fusion kam. Diese Fusion hat damit zu tun, dass unsere Industrieflächen sich über fünf Gemarkungen hinziehen, die praktisch fusioniert hatten. Damit war der Wunsch geboren, eine schnellere Bearbeitung von Anträgen zu ermöglichen. Und die Nähe der Gemeinden untereinander war so groß, dass man Gemeinde- oder Stadtgrenzen überhaupt nicht mehr erkannte. Ein bisschen Druck aus der Industrie, ein bisschen Einsicht bei den politisch Handelnden - das hat letztendlich dazu geführt, dass wir uns darauf verständigt haben, uns zusammen zu schließen.

Das hört sich nach einer Zwangsheirat an?

Ich will das mal so sagen: Jede Fusion macht am Anfang Schwierigkeiten. Mit denen schlagen wir uns noch herum. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wie die überwinden werden. Es ist zwar noch ein langer Weg, bis in den Köpfen der Zusammenschluss bei allen Menschen angekommen ist. Es gab in der Vergangenheit durchaus Rivalitäten, vor allen Dingen zwischen den beiden großen Städten Bitterfeld und Wolfen. Die müssen überwunden werden. Aber ich denke, dann werden wir auch gute Effekte aus dieser Fusion ziehen können.

Tagebausee Goitzsche bei Bitterfeld Copyright: picture alliance / ZB
Goitzsche-See bei BitterfeldBild: picture-alliance / ZB

Wagen Sie einen Blick in die Zukunft: Wie sehen Sie die Entwicklung von Bitterfeld-Wolfen in den nächsten fünf bis zehn Jahren?

Wir versuchen auch weiterhin, diese Entwicklung speziell im Solar Valley und im Chemiepark und die weitere Vervollkommnung der Erholungsmöglichkeiten an der Goitzsche durch ein vernünftiges Marketing voranzutreiben. Aber das alles wird - und das ist auch mit der Bevölkerung sehr deutlich abzusprechen - geduldig entwickelt werden müssen. Es wird keine plötzlichen Entwicklungen wie kurz nach der Wende geben. Wir wollen unsere Zukunft auch weiterhin auf eine Industriestadt am See lenken.