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Sicherheitsstrategie: Langer Anlauf, kurzer Sprung?

Veröffentlicht 10. Juni 2023Zuletzt aktualisiert 14. Juni 2023

Deutschlands Regierung will die erste Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen. Streit in der Koalition hat immer wieder für eine Verschiebung des ambitionierten Projekts gesorgt – und fürs Abspecken.

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Boris Pistorius (SPD, M), Bundesminister der Verteidigung, steht zusammen mit Generalleutnant Martin Schelleis (l), Inspekteur der Streitkräftebasis, auf einem Fahrschulpanzer vom Typ Leopard 2.
Wo lang zu mehr Sicherheit? Die Strategie der Regierung sucht AntwortenBild: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa/picture alliance

Öffentlich bekannt ist bislang nur, dass sie 37 Seiten lang ist. Und dass es monatelang Streit gab. Der hat für wiederkehrende Verschiebungen gesorgt. Und hat möglicherweise den ambitionierten, umfassenden Ansatz der Nationalen Sicherheitsstrategie verwässert. Genaueres wird man am 14. Juni erfahren – vielleicht. Dann berät das Bundeskabinett über die Sicherheitsstrategie. Tags darauf steht sie auf der Tagesordnung des Bundestages.

Schon im Koalitionsvertrag hatte sich die in Berlin regierende Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP im Herbst 2021 die Erstellung einer Nationalen Sicherheitsstrategie vorgenommen. Das war noch Monate vor Russlands Angriff auf die Ukraine. Und fünf Jahre nach dem letzten Weißbuch der Bundeswehr, dem obersten sicherheits- und verteidigungspolitischen Grundlagendokument, in dem sicherheitspolitische Fragestellungen bislang beantwortet wurden.

"Sicherheit der Freiheit unseres Lebens"

Als Außenministerin Annalena Baerbock Mitte März 2022 mit einer Rede offiziell die Entwicklung der Nationalen Sicherheitsstrategie startete, tobte seit drei Wochen der Krieg in der Ukraine, hatte Kanzler Olaf Scholz bereits die "Zeitenwende" ausgerufen, war das Interesse an der deutschen Sicherheitsstrategie groß – im Inland und im Ausland. Als Ziel des Vorhabens definierte die Außenministerin nichts Geringeres als "die Sicherheit der Freiheit unseres Lebens".

Geplant war eine umfassende Vermessung des außen- und sicherheitspolitischen Umfelds unter dem Begriff der "Integrierten Sicherheit". Unter diesem Begriff, erläutert der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Arlt, "gehören zur Sicherheit ganz viele Dinge: Von der Bildungspolitik über die Gesundheitspolitik bis zu Umwelt-, Ernährungs- und Finanzpolitik." Arlt, vor seinem Einzug ins Parlament Major der Bundeswehr, folgert im DW-Interview: "Damit haben wir jede Menge Sicherstellungsbereiche und Dimensionen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, wenn wir über Sicherheit als Gesamtes sprechen".

Das Containerschiff Zeus Lumos, das unter britischer Flagge fährt, passiert bei Ismailia (Ägypten) den Suezkanal in Richtung Mittelmeer.
"Integrierte Sicherheit" nimmt auch Lieferketten in den BlilckBild: Jürgen Schwenkenbecher/picture alliance

Ziele, hinter denen sich auch die Opposition versammeln kann. Auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Thomas Erndl steht hinter der Entwicklung der Sicherheitsstrategie: "Wenn wir uns die Bedrohungslage anschauen, hybride Bedrohungen, Lieferketten, Abhängigkeiten, - selbst im Medikamentenbereich - dann ist klar, dass wir eine ganzheitliche Betrachtung brauchen und Antworten finden müssen". Der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses findet es gegenüber der DW ausdrücklich" gut, dass die Regierung sich dieser Aufgabe angenommen hat".

"Regierung in zentralen Fragen nicht einig"

Zugleich verweist der Oppositionspolitiker auf die wiederholten Verschiebungen der Sicherheitsstrategie. Denn dieses Grundsatzpapier mit Auswirkungen auf fast alle Politikfelder sollte bereits Mitte Februar bei der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt werden. Weitere Terminankündigungen wurden nicht eingehalten; zuletzt wurde ein Termin Ende Mai gerissen. Der CSU-Politiker Erndl folgert: "Offensichtlich ist sich die Regierung in zentralen Fragen nicht einig!"

Vielleicht hätte sich die Regierung und das bei der Strategieentwicklung federführende Auswärtige Amt von vorneherein nicht so sehr zeitlich unter Druck setzen müssen. Es gehe schließlich um einen komplexen Prozess mit sehr vielen Beteiligten, erklärt Antonia Witt von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, HSFK: "Das braucht einen breiten Verständigungsprozess innerhalb der Regierung, aber eben auch mit der Bevölkerung und mit Expert*innen, darüber, was eigentlich die Sicherheitsherausforderung sind, welche Bedrohungsszenarien wir zu erwarten haben in der Zukunft und welche Mittel Deutschland einsetzen möchte, um welche Ziele in der Sicherheitspolitik zu erreichen. Und das ist ein sehr, sehr wichtiger politischer Prozess". Und weil die Strategie alle Politikbereiche betrifft, muss sie "eben auch sehr viele politisch umstrittene Fragen abdecken", sagt die Politikwissenschaftlerin. Was für Verzögerungen sorgt – und Streit.

Rüstungsexporte, Hackbacks, Zwei-Prozent-Ziel

Streit gab es nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters unter anderem bei der Frage von Rüstungsexporten und im Bereich Cybersicherheit. Das FDP-geführte Justizministerium soll sich gegen sogenannte "Hackbacks" gesperrt haben. Gemeint ist die Erlaubnis, nach einem Cyberangriff selbst Angreifer attackieren zu können.

In blauem Licht Hände auf einer Computertastatur
Streitpunkt zwischen FDP und Grünen: Hackbacks ja oder nein?Bild: allOver-MEV/IMAGO

Auch ums Geld wurde gestritten. Genauer: Um die Frage, ob das Zwei-Prozent-Ziel der NATO in der Strategie festgeschrieben wird. "Da war die Frage, ob es einen unmittelbaren Ausgleich von militärischen und nicht militärischen Ausgaben geben muss", erläutert Politikwissenschaftlerin Witt. "Also ob für jeden Euro, der militärisch ausgegeben wird, auch ein Euro in nicht-militärische Maßnahmen investiert werden soll – damit ist vor allen Dingen Krisendiplomatie gemeint, aber auch Entwicklungszusammenarbeit".

Kein Nationaler Sicherheitsrat

Bereits vor längerer Zeit begraben wurde der Plan, einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten. Der hätte als Koordinierungsstelle dienen können, um ressortübergreifend Antworten auf Krisen und Herausforderungen zu finden. "Weil strittig ist, wo dieser Nationale Sicherheitsrat angesiedelt werden soll", vermutet Antonia Witt. Medienberichten zufolge wollten sowohl das Kanzleramt als auch das Außenministerium den Sicherheitsrat unter ihrem Dach haben.

Für den Oppositionspolitiker Erndl wäre der Nationale Sicherheitsrat als ressortübergreifende Koordinierungsstelle ein "zentraler Punkt" gewesen. "Aber die Regierung lässt diesen Punkt einfach fallen, weil sie keine Einigkeit findet", kritisiert der CSU-Mann.

Deutschland nach dem Hochwasser l Bewohner in Kreuzberg, Altenahr
"Integrierte Sicherheit" denkt auch den Klimawandel mit - und die Folgen. Wie das Hochwasser an der Ahr 2021Bild: Christian Mang/REUTERS

SPD-Parlamentarier Arlt wirbt um Verständnis. Und hat jenseits der Probleme mit dem Ressortegoismus von Ministerien eine weitere Erklärung für die Probleme bei der Erarbeitung der Strategie: "Wir haben keine strategische Kultur. Wir haben strategische Fragen die letzten 70 Jahre der NATO überlassen. Wir hatten konzeptionelle Dokumente, aber nie eine Strategie. Das ist was Neues für uns und so ein Kulturwandel, der dauert."

Dass es dauert, hat zumindest eine konkrete Auswirkung: Wenn die deutsche und die chinesische Regierung am 20. Juni zu ihren Regierungskonsultationen in Berlin zusammenkommen, wird die ebenfalls geplante China-Strategie noch nicht vorliegen. Denn die soll auf der Sicherheitsstrategie aufbauen.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein