Nach dem Gipfel, vor dem Gipfel
23. Juni 2015Als sie nach mehr als vier Stunden aus dem Sitzungssaal kam, zeigte sich Angela Merkel in ihrer nüchternsten Stimmung: "Die griechischen Vorschläge sind ein guter Ausgangspunkt für weitere Gespräche." Das bedeute, dass jetzt noch 48 Stunden harter Arbeit geleistet werden müssten, bis sich die Finanzminister der Eurogruppe am Mittwochabend erneut treffen würden. Bis dahin müssten alle Einzelheiten geklärt und die Zahlen durchgerechnet sein, so die Kanzlerin weiter. Erst hätten die Finanzminister grünes Licht zu geben. Erst dann würden die Regierungschefs bei ihrem regulären Gipfeltreffen am kommenden Donnerstag die notwendigen Beschlüsse fassen.
Hartnäckig sprach die Kanzlerin dabei von den drei Gläubiger-Institutionen, die zu einem positiven Ergebnis kommen müssten. Keine Rede davon, etwa den Internationalen Währungsfonds (IWF) auszuklinken, wie teilweise vermutet worden war. Berlin hält die Gruppe der Gläubiger zusammen und schließt Sonderlösungen für Athen aus.
Es gibt noch ein paar Probleme
Sehr intensive Arbeit müsse in den nächsten zwei Tagen geleistet werden, betonte die Bundeskanzlerin mehrfach und zählte diverse Probleme auf: Die Eurogruppe müsse sich mit der mittelfristigen Finanzierbarkeit der Pläne befassen und klären, welche politischen Vorleistungen Athen erbringen müsse. Dann müssten Vorlagen an das griechische Parlament gehen und die nationalen Parlamente einiger Gläubigerländer, darunter an den Deutschen Bundestag, um die ausstehenden Gelder freizugeben.
Über einen Schuldenschnitt, wie der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ihn verlangt, oder gar über die Verlängerung des in einer Woche auslaufenden Hilfsprogramms mochte Merkel nicht reden. Dabei ist technisch die rechtzeitige Auszahlung der ausstehenden 7,2 Milliarden Euro bis zum 30. Juni kaum noch möglich. Irgendwie muss die Frist aufgeschoben werden. Und kein Wort von der Kanzlerin über weitere Kredite für das bankrotte Land: "Wir müssen mit den Mitteln auskommen, die im zweiten Hilfsprogramm stecken." Selbst wenn man die knapp elf Milliarden aus der Bankenrestrukturierung noch hinzu rechnet, ist klar, dass Griechenland mit dem Geld gerade über den Sommer kommt.
Arbeit und noch mehr Arbeit
Auch IWF-Chefin Christine Lagarde sprach von Zeitnot und gewaltiger Arbeit, die jetzt in kürzester Zeit geleistet werden müsste. Der italienische Regierungschef Matteo Renzi floh aus dem Gipfelgebäude und murmelte von "anhaltenden Arbeiten", und Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem beschwor ebenfalls "harte Arbeit" bis Mittwochabend. Ungebremst zuversichtlich zeigte sich in dieser Nacht nur der französische Präsident François Hollande: Die Grundlagen für eine Einigung sah er sogar schon "hier und jetzt".
Die sonst so redseligen Griechen gaben sich in dieser Nacht wortkarg. Alexis Tsipras sah den Ball nach dem Treffen wieder einmal im Feld der Gläubiger und beschwor eine Vereinbarung in den nächsten 48 Stunden. Und man wolle eine Einigung, die die soziale Gerechtigkeit wahre. Seine Vorschläge basieren denn auch im Wesentlichen auf Steuererhöhungen und vermeiden Einschnitte etwa bei den Renten. Eine weitreichende Anhebung der Mehrwertsteuer, eine Erhöhung der Rentenbeiträge und eine Reichensteuer zum Beispiel sollen in den nächsten eineinhalb Jahren fünf Milliarden Euro in die Staatskassen bringen. Sogar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der ewige Zweckoptimist unter den Verhandlungspartnern, zeigte nur gebremste Zuversicht. Er erwartet zwar in dieser Woche noch eine Einigung mit Griechenland, aber "die wird nicht einfach werden".
War es nur ein Phantomgipfel?
Es gab an diesem Abend in Brüssel für die Regierungschefs keine Beschlussvorlage. Journalisten hatten vor dem Treffen schon frech gefragt, warum die Regierungschefs dann überhaupt anreisten. Das war, nachdem zornige Finanzminister zuvor von einer Verschwendung von Flugmeilen gesprochen hatten und davon, dass die griechische Regierung eigentlich die Reisekosten erstatten müsse. Denn die griechischen Vorschläge waren einmal mehr zu kurzfristig gekommen, um noch richtig geprüft zu werden.
Immerhin aber brachte das Treffen kurz vor Ende noch einmal Bewegung: Es waren die ersten echten Vorschläge aus Athen seit Wochen, lobte Ratspräsident Donald Tusk. Und ein EU-Diplomat erläuterte den pädagogischen Zweck der Veranstaltung: Immerhin habe die Sitzung dem griechischen Premier klar gemacht, dass er zwar das geforderte Gipfeltreffen haben könne, aber keine Verhandlungen. Das heißt: Eine Lösung gibt es nur mit den in Athen verhassten Gläubigervertretern und auf technischer Ebene, komplett mit Zahlenwerk. Die Enttäuschung für Alexis Tsipras am Ende war: Angela Merkel zog keine politische Lösung aus dem Zauberhut, sie setzte keine magische Kraft ein, um das Schuldendrama zu beenden. Stattdessen regiert der Rechenstift.
Die EZB hält den Patienten Griechenland am Leben
Wer die wahre Macht über das Leben des griechischen Patienten hat, war nach dem kurzen Gespräch zwischen dem EZB-Chef und Alexis Tsipras am frühen Abend sehr deutlich geworden. Solange das zweite Hilfspaket läuft, so hatte Mario Draghi dem Griechen versichert, werde Frankfurt die griechischen Banken weiter mit Krediten versorgen. Das heißt im Umkehrschluss, dass diese lebenserhaltende Maßnahme endet, wenn Athen keine Einigung mit den Gläubigern erzielt. Spätestens da müssten beim griechischen Regierungschef alle Unklarheiten beseitigt gewesen sein.
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