1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikMyanmar

Myanmar: Fahnenflucht und sinkende Moral

Julian Küng in Bangkok
23. Juni 2024

Die Militärjunta in Myanmar verliert zunehmend an Macht. Immer mehr Soldaten verlassen die Streitkräfte. Geflüchtete Militärs berichten von desolaten Bedingungen an der Front.

https://p.dw.com/p/4hLtq
Myanmar Myawaddy | Soldaten der KNLAi n einem vom Militär zerstörtem Dorf
Zuflucht für Ex-Soldaten der Junta: Die Karen National Liberation Army (KNLA) in einem vom Militär zerstörtem Dorf Bild: Athit Perawongmetha/REUTERS

Vor einem Jahr war Aung Kyaw noch ein einfacher Fabrikarbeiter in einem Vorort von Yangon. Heute wird der junge Mann in seiner Heimat als Staatsfeind gesucht und muss um sein Leben fürchten. Gemeinsam mit weiteren abtrünnigen Soldaten versteckt er sich in einem gesichtslosen Wohnblock irgendwo im Grenzgebiet zwischen Myanmar und Thailand.

Aungs unfreiwilliger Weg in den Krieg begann mit einer verlängerten Arbeitsschicht. Es war bereits spätabends und die Ausgangssperre längst in Kraft, als ihm Soldaten den Heimweg versperrten. Sie stellten ihn vor die Wahl: "Knast oder Militär?"

Das elende Leben im Kampfgebiet

Fortan gehörte er der Institution an, die er eigentlich verachtete. Nach sechs Monaten Grundausbildung fand sich der 21-Jährige bereits in den Kampfgebieten im Osten des Landes wieder. Dort ringt die Militärjunta um die Kontrolle strategisch wichtiger Grenzregionen und lukrativer Handelsrouten nach Thailand.

Die Zustände In den Dschungelbarracken waren elend. "Viele Verwundete wurden einfach liegengelassen", erinnert sich Aung. Das Regime habe große Mühe, ihre Truppen mit Nahrung, Munition und medizinischem Nachschub zu versorgen. "Medikamente konnten nicht geliefert werden, da die Strassen von Rebellen blockiert wurden." Viele Soldaten seien demoralisiert, erschöpft und wollten nicht mehr kämpfen, "aber ihre Vorgesetzten drängten sie dazu", fügt er hinzu.

Zudem machte im Stützpunkt schnell die Runde, dass versprochene Entschädigungen an Familien gefallener Soldaten nicht ausgezahlt wurden. "Nur ein paar Familien erhielten Geld", sagt Aung. "Andere gingen leer aus."

Um der schwindenden Moral entgegenzuwirken, wurden in seiner Einheit Aufputschmittel verteilt. "Jeder Soldat erhielt zweimal wöchentlich vier Meth-Pillen", erzählt er. Manche wurden gezwungen, den gefährlichen Mix aus Methamphetamin und Koffein zu konsumieren. "Ich tat so, als würde ich sie schlucken, warf sie dann aber weg."

Aung konnte die Zustände nicht länger ertragen. Er floh aus der Militärbasis und lief zu den Rebellen über. In den Reihen der Karen National Liberation Army (KNLA), einer der ältesten und stärksten ethnischen Armeen Myanmars, kämpfte er einen Monat lang gegen das Militärregime. "Der Widerstand wird bald siegen und wir werden unser Land zurückerobern", ist der einstige Fabrikarbeiter überzeugt.

Thailand l abtrünnige Soldaten des myanmarischen Militärs im Safe House
Ex-Soldaten des myanmarischen Militärs im Safe HouseBild: Julian Küng

Etwa 15.000 Soldaten und Polizisten haben sich seit dem Militärputsch dem Widerstand angeschlossen, schätzt Naung Yoe von "People's Goal", einer Organisation, die Soldaten bei der Fahnenflucht hilft. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar, doch verzeichnet der Hilfsverein seit letztem Herbst einen deutlichen Anstieg an abtrünnigen Soldaten. "Seit der Operation 1027 hat die Zahl der Überläufer signifikant zugenommen", sagt Yoe der DW.

Wendepunkt: Koordinierte Angriffe auf die Junta

Die sogenannte Operation 1027 markierte einen Wendepunkt im myanmarischen Bürgerkrieg. Ende Oktober startete ein Bündnis aus drei ethnischen Minderheitenarmeen einen koordinierten Angriff auf die Junta und eroberte bedeutsame Gebiete im Norden des Landes.

Nach dem fulminanten Erfolg der Herbstoffensive haben sich in zahlreichen Regionen des Landes ähnliche Offensiven gegen die Junta formiert. Die einst als unbesiegbar geltende myanmarische Armee erleidet eine Reihe von Niederlagen. Eine lose Allianz aus Armeen ethnischer Minderheiten und prodemokratischen Milizen hat bereits hunderte militärische Außenposten, Verkehrswege und Territorien eingenommen, einschließlich wichtiger Grenzgebiete zu China, Indien und Thailand.

Im zentralen Tiefland, dem Siedlungsgebiet der Bamar-Mehrheit, hält sich das Militär noch klar an der Macht. Den Rest des Landes hätten sie jedoch weitgehend verloren, so Experten. Der Sonderbeirat für Myanmar (SAC-M), eine unabhängige Gruppe internationaler Experten, kommt in seiner neusten Analyse zu dem Schluss, dass die Putschisten in 86 Prozent der Landesfläche und bei 67 Prozent der Bevölkerung keine stabile Kontrolle mehr ausüben können.

Während das Einflussgebiet der Junta schrumpft, wächst die Widerstandsbewegung. Fast täglich schließen sich weitere abtrünnige Soldaten und Armeedienstverweigerer den Rebellen an, die alles hinter sich gelassen haben: ihre Heimat, ihre Familien und das Joch der Militärdiktatur.

Thailand l Abtrünniger Fernmeldeoffizier im Safe House
Ex-Soldaten berichten, dass sie vom Militär umfassend überwacht wurden.Bild: Julian Küng

Auch Zeya, Mitte 40, hat im Safe House Zuflucht gefunden. In seinem legeren Hawaiihemd und kurzen Hosen wirkt er wie ein normaler Einheimischer. Doch die disziplinierte Haltung und die kurz prägnanten Antworten lassen seine Vergangenheit erahnen. 25 Jahre lang diente er im myanmarischen Militär. Zuerst als einfacher Soldat und später als Offizier der Fernmeldetruppen fungierte er als Bindeglied zwischen der Front und der Armeeführung.

Zeya wurde im Laufe der "Operation 1027" in den nördlichen Shan-Staat entsandt, um auf Geheiß der Junta die Rebellenoffensive aufzuhalten. Doch der Einsatz endete in einem Desaster.

"Es war brutal", sagt er mit festem Blick. Zuerst hagelte es Drohnenangriffe aus der Luft. Dann folgte ein Großangriff von Bodentruppen, dem sie mit mangelhafter Ausrüstung nicht standhalten konnten. "Unsere Gewehre ließen sich kaum laden. Und selbst wenn, konnten wir nur zwei Magazine abfeuern, bevor sie wieder klemmten. Es war, als ob uns die Armeeführung in den sicheren Tod schicken wollte."

Viele seiner Kameraden starben oder wurden gefangen genommen, während die Soldaten in den hinteren Reihen nichts von dem Chaos in den Kampfgebieten erfahren dürfen, erklärt Fernmeldeoffizier Zeya. "Die haben keine Ahnung, was sich an der Front abspielt. Der Zugang zu solchen Informationen wird ihnen verwehrt."

Die Militärführung versucht den Informationsverkehr im Land mit allen Mitteln zu manipulieren. Wenn die Oppositionsgruppen ein Kampfflugzeug abschießen, wird ein "technischer Defekt" als Ursache vermeldet. Die historischen Niederlagen und Gebietsverluste werden als "temporäre taktische Rückzüge" schöngeredet oder als Falschmeldung abgetan. Dass seit Beginn der Rebellenoffensive Tausende von Regimesoldaten gefallen sind, wird verschwiegen.

Zeya hält es nicht mehr aus, beginnt nach der "Operation 1027" seine Flucht zu planen. Dem myanmarischen Militär den Rücken zu kehren, ist jedoch mit beträchtlichen Risiken verbunden. Verrätern drohen drakonische Strafen, die von langer Haft, Folter bis hin zur Todesstrafe reichen.

Zum Wehrdienst gezwungen: Massenflucht aus Myanmar

Repressalien gegen Familienangehörige

Um Desertion zu verhindern, nimmt das Militär zudem Angehörige von Soldaten in Sippenhaft. "Familien von abtrünnigen Soldaten wurden schon unter Druck gesetzt, bedroht und ihr Eigentum beschlagnahmt”, sagt Naung Yoe vom Hilfsverein People's Goal. Außerdem sind die Familien meist auf Pensionszahlungen angewiesen, die wegfallen, wenn Soldaten die Armee verlassen.

Als erstes versteckte Zeya deshalb seine kleine Tochter bei der Schwiegermutter und gab der Armeeführung eine falsche Adresse an. Denn die Kontrolle durch ihre Vorgesetzten sei omnipräsent. "Sie wissen, was wir auf Facebook posten, welche Handynummern wir nutzen, kennen unsere E-Mail-Konten und unseren Handystandort via GPS-Tracking", erklärt er.

Er setzte sein Handy zurück und tauschte die SIM-Karten gegen neue, geheime aus. Obwohl er als Berufsoffizier die Stützpunkte und Checkpoints in den Ballungsgebieten bestens kannte, wurde die Flucht zum Spießrutenlauf. "Allein um die Hauptstadt Naypyidaw zu durchqueren, musste ich mit dem Motorrad sieben verschiedene Routen nehmen."

Anschließend ging es durch zahlreiche Dörfer, wo der Widerstand breite öffentliche Unterstützung genießt. "Dort bat ich die Einheimischen jeweils um Rat, wie ich die nächsten Kontrollstellen umgehen konnte." Schließlich erreichte er "befreites" Gebiet der Rebellen und fand im Safe House Unterschlupf.

Von hier aus will er nun auch seine ehemaligen Kameraden davon überzeugen, sich dem Widerstand anzuschließen. Mehr als die Hälfte davon sei bereit, die Seiten zu wechseln, meint er. "Sie wollen aber zuerst meine Situation beobachten, um zu sehen, ob es mir gut ergeht oder nicht."

Wer bestimmt die Zukunft Myanmars?