Museum erhält jüdischen Nachlass
8. Dezember 2014"Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde" - Mit diesen Worten endet der erste und letzte Brief, den Fritz Wachsner 1942 an seine Enkeltochter Marianne in die USA schickt. Kurz danach wird der jüdische Lehrer gemeinsam mit seiner Frau Paula von den Nationalsozialisten nach Riga deportiert und dort ermordet. Marianne erhält den Brief des Großvaters erst im Erwachsenenalter, denn ihre Mutter Charlotte, einzige Überlebende der Familie, kann und will nicht über ihre Jugendjahre im Berlin der NS-Zeit sprechen.
Doch da gibt es noch eine große Kiste mit Fotoalben, Briefen, Büchern, Ausweisdokumenten und religiösen Gegenständen aus jener Zeit, die drei Freundinnen der Mutter nach Kriegsende in einen großen Karton gepackt und in die USA geschickt hatten. Lange blieben die Zeugnisse des jüdischen Familienlebens in der Kiste. Jetzt sind die ersten der insgesamt über 1000 Dokumente und Objekte erstmals im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.
"Noch nie haben wir einen so großen Nachlass eines deportierten und ermordeten jüdischen Lehrers erhalten", sagte der Leiter des Archivs, Aubrey Pomerance, der DW. "Das ist eine ganz besondere Schenkung, zumal die Rettungsgeschichte dieser Sammlung außergewöhnlich ist."
Freundinnen retten den Nachlass
Es ist eine Geschichte, die viel mit Freundschaft und Mut zu tun hat. Drei Freundinnen der 1937 geflohenen Tochter Charlotte besuchten Fritz Wachsner, seine Frau Paula und Sohn Ernst regelmäßig bis zu ihrer Deportation im Jahr 1942. Sie versorgten die Familie mit Essen, versteckten Ernst sogar zeitweise. Vor der Ermordung konnten sie die Wachsners zwar nicht retten, wohl aber ihr Vermächtnis an Familienfotos und Dokumenten in Sicherheit bringen .
Zwischen Charlotte und ihren drei Freundinnen entwickelte sich nach Kriegsende ein reger Briefwechsel. Als Tochter Marianne knapp über zwanzig Jahre alt war, wollte sie die deutschen Freundinnen kennenlernen und mehr über ihre Familie wissen. Sie reiste nach Berlin und freundete sich mit den drei älteren Damen an. 2007 veröffentlichte sie in den USA und Kanada unter dem Titel "Four Girls from Berlin" ein Buch über ihre Familie. Bis heute gibt es keine deutsche Übersetzung. Doch das soll sich nun ändern. Auch ein Film über die Geschichte der Familie Wachsner ist geplant.
Schüler erforschten Familiengeschichte
Den Anstoß für die Veröffentlichung der Familiengeschichte auch in Deutschland gab ein Geschichtsprojekt der Wilhelm-von-Humboldt Gemeinschaftsschule am Prenzlauer Berg in Berlin. "Wir wollten uns mit der wechselvollen 100-jährigen Geschichte des Schulgebäudes beschäftigen, in dem unsere Schule heute untergebracht ist", erzählt Sprecherin Carola Ehrlich-Cypa. "Dabei stießen die Schüler auf Fritz Wachsner, dessen Schicksal sie besonders bewegt hat."
Die Schule nahm Kontakt zu Marianne Meyerhoff in Los Angeles auf. Sie half nicht nur bei der Recherche, sondern nahm auch an der Umbenennung der alten Aula der Schule in einen "Fritz-Wachsner-Saal" teil – und stiftete dem Jüdischen Museum den Familiennachlass. Darunter befindet sich auch ein Buch, das Wachsner in den 1920er Jahren über Wanderungen schrieb.
Beliebter jüdischer Reformpädagoge
"Er war ein sehr progressiver Lehrer, der viele reformpädagogische Ideen aufgriff", erzählt Carola Ehrlich-Cypra. Unter anderem die, Schülern mehr Bewegung in der freien Natur anzubieten statt sie mit dem Stock zu disziplinieren. Er sei an der Schule sehr beliebt gewesen.
Lange war Fritz Wachsner an der damaligen Schinkel-Schule allerdings nicht beschäftigt. Er kam 1920 als Physik-, Chemie- und Biologielehrer dorthin, verlor aber schon wenige Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 seine Stellung. 1935 wurde er Direktor der Joseph-Lehmann-Schule der jüdischen Gemeinde, von 1939 bis 1941 unterrichtete er an der privaten Chemieschule eben dieser Gemeinde.
Verfehlte Überlebensstrategie
In ihrem Buch "Four Girls from Berlin" erzählt Marianne Meyerhoff, wie ihr Großvater von seinem Sohn Ernst zur Ausreise gedrängt wurde. Doch Fritz Wachsner weigerte sich. Er, der im Kaiserreich als Soldat gedient hatte, verstand sich ganz und gar als Deutscher. Seine Überlebensstrategie lautete: "Halte den Kopf unten und achte nicht zu sehr auf dich selbst." Sie kostete ihn, seine Frau und den damals 19-jährigen Ernst das Leben.
Fritz Wachsner schickte nur seine 24 Jahre alte Tochter Charlotte ins Exil. Sie verließ Deutschland im Mai 1939 mit über 900 anderen Juden auf dem Schiff St. Louis und fuhr nach Kuba. Doch die Passagiere wurden dort nicht aufgenommen, mussten zurück nach Europa. Charlotte kam in den Niederlanden in ein Gefangenenlager, konnte aber fliehen und später in die USA emigrieren.
Charlotte starb in den 1980er Jahren in Kalifornien – und hinterließ ihrer einzigen Tochter Marianne das wertvollste, was sie besaß: die große Kiste mit den Familiendokumenten. Jetzt sind sie wieder da, wo sie ursprünglich zuhause waren: in Berlin.