Eine Ärztin will Johannesburg heilen
9. Dezember 2021Es ist ein großer Moment für Mpho Phalatse. Knapp hundert Bürgermeister hatte Johannesburg vor ihr - gleich wird sie die erste Schwarze Frau sein, die ihre Antrittsrede vor dem Stadtrat hält. Doch in dem riesigen kreisförmigen Gebäude wird es so chaotisch werden wie in weiten Teilen von Johannesburg. Jener Stadt, die Phalatse jetzt regiert.
Phalatse hat die Wahl knapp und überraschend für die Oppositionspartei Democratic Alliance gewonnen. Weil sie vor drei Jahren Johannesburg als "Freund Israels" bezeichnet hatte, verzögern die Stadtverordneten des African National Congress (ANC) - der einstigen Befreier-Partei von Nelson Mandela, deren Ruf seitdem zahlreiche Korruptionsskandale erschüttert haben - ihre Rede mit lautstarken "Free Palastine"-Rufen. Nach fünf Minuten wird es im Saal ruhig - aber einige Abgeordnete sind digital zugeschaltet. Und weil der Versammlungsleiter es nicht schafft, den virtuellen Störern den Ton abzudrehen, muss Phalatse ihre Rede halten, während diese weiter in ihre Kameras brüllen.
"Es gibt keine Ausreden mehr"
Die Bürgermeisterin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und spricht über ihre Visionen und Prioritäten. Eine sichere Stadt, Wachstum und Jobs, Unterstützung von Bedürftigen, Effektivität. "Es gibt keine Ausreden mehr, wenn die Lichter ausgehen oder die Wasserhähne trocken sind. Wenn wir nicht mal die Grundlagen hinbekommen, wird es kein wirtschaftliches Wachstum geben."
Einige Stunden später sitzt Phalatse im Konferenzraum ihres Büros. Sie hat die Schuhe ausgezogen und bittet einen Kollegen, ihr etwas zu Essen zu organisieren. Bloß kein McDonald's, sagt sie. 16 Uhr nachmittags, ihre erste Mahlzeit am Tag. "Ich habe schon alles mitgemacht", sagt sie über die Angriffe anderer Parteien und rollt mit den Augen. "Baby Girl" wurde sie mal abwertend genannt. Doch jetzt ist sie hier die Chefin und will einen Wandel einleiten. Die Chefin einer Stadt im Verfall, wie sie selbst sagt.
Direkt gegenüber vom Rathaussaal haben dutzende Obdachlose an einer Wand neben der Straße ihre Unterkünfte hergerichtet. Müll, Schlaglöcher, Kriminalität - das Stadtzentrum ist berüchtigt. Einst war Johannesburg ein Goldgräber-Eldorado, doch die goldenen Zeiten sind vorbei. Ständig fällt der Strom oder das Wasser aus. Die Stadtverwaltung reagiert, wenn überhaupt, oft nur nach Tagen auf Beschwerden. Im Zentrum besetzen kriminelle Gruppen ganze Häuserblöcke. In den letzten Monaten stieg die Anzahl der Entführungen deutlich an. Mehr als 40 Prozent der Bewohner haben keine Arbeit, sagt die Bürgermeisterin, und 55 Prozent der Jugendlichen.
Kein Wahlkampf gegen Einwanderer
Und trotzdem: Für viele ist Johannesburg noch immer eine Stadt der Möglichkeiten. Noch immer ziehen Tausende aus anderen afrikanischen Ländern hierher, auf der Suche nach einem besseren Leben. Viele Parteien haben illegale Einwanderung zu ihrem Kernthema im Wahlkampf um den Bürgermeisterjob gemacht. Phalatse nicht.
"Das ist eine menschliche Entscheidung", sagt sie - und wirbt um Verständnis, dass Einwanderer eine Bereicherung für die Stadt sind. Auch sie profitiere davon, erzählt Phalatse: Ihre Haushaltshilfe aus Lesotho kümmere sich um die drei Kinder der alleinerziehenden Mutter, wenn sie arbeitet. Aber natürlich gebe es Probleme: organisierte Gewalt, illegale Minenarbeiter aus dem Ausland. "Es ist wichtig, zu wissen, wer in der Stadt lebt", sagt die Bürgermeisterin. Aber das "überforderte und korrupte" Innenministerium habe den Überblick verloren.
Politische Grabenkämpfe haben in der Vergangenheit oft mehr Aufmerksamkeit bekommen als die Lösung der massiven Probleme der Stadt. Auch Phalatse wird sich davon nicht freimachen können. Bei den Stadtverordneten, die 18 Parteien angehören, hat sie sich knapp gegen den ANC-Kandidaten durchgesetzt - auch dank der Stimmen des Erzfeindes ihrer Partei, den Economic Freedom Fighters.
Gegen Pandemie und Impfskeptiker
Phalatse sagt, sie liebe es, Probleme zu lösen. Doch wo fängt man da an, in einer Stadt wie Johannesburg? Ihre Partei war zwischen 2016 und 2019 schon einmal an der Macht. Schon damals gab es einen Infrastruktur-Rückstau in Höhe von mehr als zehn Milliarden Euro - bei einem jährlichen Budget von weniger als 500 Millionen Euro.
Und jetzt wartet direkt ein neues Problem: die Pandemie. Phalatse ist unterwegs im Township Soweto, besucht eine Impfstation, in der sich kaum noch jemand impfen lässt. Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Südafrika steigt rasant, getrieben von der neuen Omikron-Variante. Das Gebiet um Johannesburg ist momentan das Epizentrum. Trotzdem ist nur jeder vierte Südafrikaner vollständig geimpft. Die Bürgermeisterin ist gelernte Ärztin - und überzeugt, dass Impfungen der beste Weg sind, um Krankenhauseinweisungen und auch einen weiteren Lockdown zu verhindern. Also klopft sie vor der Impfstation an die Türen der Häuser und Hütten. "Ich habe gehört, dass man krank wird, wenn man sich impfen lässt", sagt ihr ein junger Mann. Impfskepsis ist hier weit verbreitet. Phalatse versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Er werde es sich nochmal überlegen, sagt der Mann.
Die Bürgermeisterin weiß: Fünf Jahre Amtszeit werden nicht reichen, um alle Probleme hier zu lösen. Aber: "Diese Stadt ist krank", sagt Phalatse. "Sie braucht einen Arzt."