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Moskaus Straßen plötzlich ohne Straßenkinder

25. Februar 2002

- Putins Initiative scheint Wirkung zu zeigen. Aber: Wie lange?

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Moskau, 21.2.2002, THE MOSCOW TIMES, engl., S. 1, Oksana Jablokowa

Auf den Moskauer Bahnhöfen, die einst von Hunderten von Straßenkindern belagert wurden, sind nun auf seltsame Weise keine Obdachlosen mehr zu finden, die jünger aussehen als 18. "Sie werden hier keine mehr finden. Die letzten von denen, derer wir nicht habhaft werden konnten, sind vor drei Wochen weggelaufen", sagt ein Milizionär, auf Patrouille auf dem Kasaner Bahnhof, der namentlich nicht genannt werden will. Auf dem Kursker und dem Kiewer Bahnhof waren ebenfalls keine Kinder zu sehen.

Einige Kinder, die die Bahnhöfe belagerten, haben ihre Lieblingsplätze verlassen und verstecken sich, nachdem Präsident Wladimir Putin Mitte Januar der Regierung eine Rüge dafür erteilt hatte, weil sie der erschreckenden Anzahl von Straßenkindern keine Aufmerksamkeit schenke und sie zum Handeln aufgefordert hatte.

Andere wie der 13jährige Wolodja Schdakajew wurden von der neu motivierten Miliz aufgegriffen und in ein Heim gebracht. Die Folge - Moskaus zwei Kinderheime platzen aus den Nähten. Sonst selten voll, beherbergt das im Nordosten Moskaus gelegene Kinderheim Otradnoje, das von der Stadt finanziert und für 80 Kinder geplant ist, jetzt 130 Kinder im Alter zwischen drei und 16 Jahren.

Ebenso wie die 30 anderen Kinder, die in den vergangenen drei Wochen in das Heim gebracht worden sind, wurde Wolodja auf einem Bahnhof von der Miliz aufgegriffen und verbrachte eine Woche im Krankenhaus, um sicherzugehen, dass er sich keine ansteckende Krankheit eingefangen hat. In das Heim kam er am Freitag, aber wie viele andere hat er nicht vor, hier länger zu bleiben. "Ich werde auf jeden Fall weglaufen. Hier ist es langweilig und Rauchen ist nicht erlaubt", sagt Wolodja, während er Russisch-Hausarbeiten macht, etwas, das er nicht oft tut, denn er geht nicht zur Schule. Obwohl er sagt, er brauche keinen Russisch-Unterricht, war er ganz bei der Sache und schien unglaublich stolz zu sein, als andere Kinder ihn zu seiner hübschen Handschrift beglückwünschten.

Vom Heimpersonal war zu erfahren, Wolodja habe eine Mutter und eine Bescheinigung, die ihm erlaubt, legal in Moskau zu leben und hier zur Schule zu gehen. Er nennt sich aber ein Waisenkind und sagt, er ziehe ein freies Leben auf dem Kiewer Bahnhof vor.

Anders als die übrigen Kinder, die in den letzten drei Wochen nach Otradnoje gebracht worden sind, hat die zwölfjährige Mascha Dodajewa noch nie auf der Straße gelebt. Im vergangenen Monat lief sie aus dem Haus ihrer Schwester im Gebiet Wladimir weg und nahm einen Zug Richtung Moskau. Sie sagt, sie habe weiter nach Saratow fahren wollen, wo ihre Eltern leben, sei in Moskau aber sofort von der Polizei aufgegriffen worden, als sie und ihre Freundin am 8. Februar aus dem Zug stiegen. "Ich hatte nicht vor, auf Bahnhöfen herumzulungern. Ich wollte einfach nur zu meiner Mama und meinem Papa zurück. Aber die Polizei schnappte uns und steckte uns hinter Gitter, noch bevor wir den Bahnhof verlassen hatten", erzählt Mascha. Ihre Eltern hatten sie vor zwei Jahren zu ihrer Schwester geschickt, um ihr zu helfen. Das Heim hat Kontakt zu Maschas Schwester aufgenommen, aber keiner kam, um sie abzuholen. Mascha will nur nach Hause, wenn sie von ihren Eltern abgeholt wird.

Mascha und Wolodja gehören zu etwa 30 Kindern, die im getrennten - und geschlossenen - Flügel des Heims wohnen, der für Kinder reserviert ist, die gerade angekommen sind. Um sie kümmert sich Olga Manuchina, eine ehemalige Lehrerin, die seit zwei Jahren in dem Heim arbeitet. Nach ihrer Ansicht wird die Kampagne, die Kinder von den Straßen zu holen, kaum etwas bewirken, wenn sie wie andere Kampagnen der Regierung in der Vergangenheit im Sande verläuft. "Wenn man sich nicht ein oder zwei Jahre Zeit nimmt, um den Kindern, die weglaufen möchten, beizubringen, dass es so ist und so bleiben wird, dann werden viele Kinder einen Monat nach Ende der Kampagne wieder auf der Straße sein. Unsere Kinder sagen sogar, dass alles wieder normal sein wird, sobald diese Razzien beendet sind", sagt Manuchina.

Nachdem Putin auf des Problem der Straßenkinder aufmerksam gemacht hatte, wurde man in verschiedenen Regierungsorganen aktiv. Hauptsächlich beschäftigte man sich damit, Pläne zu entwerfen und Einsatzkräfte zu bilden.

Das Arbeitsministerium richtete in Moskau am 1. Februar eine Hotline ein, der über Fälle von Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und Obdachlosigkeit berichtet werden kann. In den ersten zwei Wochen nach Einrichtung der Hotline wurden lediglich zwei Anrufe entgegengenommen, bei denen Straßenkinder gemeldet wurden, die daraufhin in eines der Heime der Stadt gebracht wurden, sagt Walentina Terjochina, verantwortlich für die Hotline. (...)

Das Innenministerium, dessen Mitarbeiter obdachlose Kinder nicht aufgreifen dürfen, solange sie nicht eine Straftat begangen haben, tun dies jetzt trotzdem. Und sie haben die Mitarbeiter der Heime und andere, die meinen, wer sonst könnte den Job machen, auf ihrer Seite.

Aber sogar die Bahnhofsmiliz gibt zu, dass die meisten Straßenkinder sich einfach verstecken und auf den Augenblick warten, da die Milizionäre sie ignorieren, wie sie es vor der Putin-Kampagne taten.

Lidia Iwanowa, stellvertretende Leiterin des Heimes Otradnoje, erklärte, die Regierung müsse einen umfassenden Plan erarbeiten, um an das Problem herangehen zu können. Wenn man die Kinder nur außer Sichtweite bringe, sie in Heime stecke und vergesse, werde wohl kaum etwas erreicht werden.

Das Heim Otradnoje und ein weiteres sind die einzigen Heime in Moskau, die denen Psychologen mit den Kindern und ihren Familienangehörigen arbeiten. Anders als andere Heime oder Waisenhäuser nehmen sie auch Kinder ohne Ausweispapiere oder Gesundheitsausweise auf, und ihre Türen stehen rund um die Uhr offen. In Russland gebe es insgesamt 900 solcher Heime, so Terjochina, dies sei aber viel zu wenig.

Wie viele Kinder, die von zuhause weggelaufen sind oder auf der Straße leben, es in Russland tatsächlich gibt, weiß keiner. Die Generalstaatsanwaltschaft geht von drei Millionen aus. (TS)