Modiano - Meister der Erinnerung
9. Oktober 2014Jo Lendle ist überglücklich. Der Chef des Münchener Hanser Verlags hat Patrick Modiano im Programm. Und damit einen weiteren Preisträger des Nobelpreises für Literatur. Dass der französische Erzähler in diesem Jahr die begehrteste literarische Auszeichnung der Welt erhalten könnte, hat kaum jemand erwartet. Als Favoriten galten zuletzt der schon mehrfach nominierte Japaner Haruki Murakami, der Kenianer Ngugi Thiong’o sowie der Österreicher Peter Handke. Aber wieder einmal hat die schwedische Akademie einen eigenen Akzent gesetzt.
In Frankreich geschätzt
Patrick Modiano ist in Frankreich ein geschätzter, viel gelesener und vielfach ausgezeichneter Autor, international aber zählt er eher zu den großen Unbekannten. Das wird sich nun ändern. Zumal die schmalen Bücher des 1945 in Boulogne-Billancourt geborenen Schriftstellers in einer einfachen, gut lesbaren, aber gleichwohl eleganten Sprache geschrieben sind. Die Neue Zürcher Zeitung charakterisierte ihn einmal als "Meister der nebelgrauen Scharade, der in seinem Werken autobiographische Spuren legt und sogleich wieder verwischt".
Der in Paris lebende Patrick Modiano hat bislang rund 30 Bücher verfasst, vor allem Romane, aber auch einige Kinderbücher. Sie spielen zumeist in der Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs, während des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung sowie in der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein.
Ganz besondere Erinnerungsbücher seien das, in deren Mittelpunkt die qualvolle, gelegentlich gar detektivische Suche der Figuren nach ihrer Identität und Vergangenheit stehe, lobte das schwedische Nobelpreiskomitee. "Mein Ziel ist es zu versuchen, eine Welt im Dämmerlicht wiederzugeben", hat Modiano einmal gesagt. "Ich greife auf die Zeit der Besatzung zurück, weil sie mir die ideal trübe Atmosphäre liefert, dieses eigenartige Licht."
Den Erinnerungen nachspüren
Die existenzielle Bedrohung der Verfolgten in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts schwingt in den meisten Romanen Modianos mit. Sie hat ihre Ursache sicher auch in der eigenen Geschichte. Der jüdische Vater lebte während der deutschen Besatzung unter falschem Namen in einem Versteck und soll dubiosen Schwarzmarktgeschäften nachgegangen sein. Die Mutter, eine flämische Schauspielerin, war häufig auf Tournee, und der Bruder Rudy starb früh. Ihm widmete Modiano die Mehrzahl seiner Romane.
"Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren" - diesen Satz des französischen Dichters René Char hat Modiano bereits seinem frühen Roman "Familienstammbuch" überschrieben. In den Büchern, die folgten, springen die Protagonisten selbst zwischen einzelnen Sätzen in den Jahrzehnten hin und her, winden sich in Zeitspiralen und finden schließlich wieder in die Gegenwart zurück, die meist die des Paris aus den sechziger Jahren ist.
Verlorene Liebe in Berlin
Modianos letztes auf Deutsch erschienenes Buch "Der Horizont" (Hanser, 2013) erzählt die Geschichte eines jungen Paares in den unruhigen 1960er Jahren – die Geschichte einer verlorenen Liebe, vieler Erinnerungen und einer Spur, die bis in eine Berliner Buchhandlung führt. Modianos Roman "Gräser der Nacht" sollte ursprünglich im Frühjahr 2015 auf Deutsch erscheinen. Nun, nachdem bekannt wurde, dass der Autor den Literaturnobelpreis erhält, hat der Carl Hanser Verlag die Veröffentlichung für die nächsten Tage angekündigt.
Der mit acht Millionen Schwedischen Kronen (etwa 900.000 Euro) dotierte Nobelpreis für Literatur wird seit 1901 von der Schwedischen Akademie in Stockholm vergeben. Stifter ist der 1896 gestorbene schwedische Industrielle Alfred Nobel. Nach dem Willen des Unternehmers, der selbst Gedichte und Dramen verfasste, soll das ausgezeichnete Werk von hohem literarischem Rang sein und dem Wohl der Menschheit dienen. Er wird traditionell am 10. Dezember, Nobels Todestag, in der schwedischen Hauptstadt Stockholm verliehen. Patrick Modiano ist bereits der 15. Franzose, der die begehrte Auszeichnung erhält.