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Mit Eisenstangen und Plastikstühlen

Ronny Blaschke12. Juni 2016

An drei Tagen hintereinander gingen russische und englische Fans aufeinander los. Solche Ausschreitungen hat es bei einem Turnier seit 2000 nicht gegeben. Kehren die Hooligans in die Stadien zurück?

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UEFA EURO 2016 England - Russland Ausschreitungen in Marseille (Foto: Reuters/J.P. Pelissier)
Bild: Reuters/J.P. Pelissier

Das zentrale Thema der EM-Vorbereitung war die Terrorgefahr, mehr als 90000 Sicherheitskräfte wurden in Frankreich in Stellung gebracht, einem Land im Ausnahmezustand. Der Vollständigkeit halber erwähnten die Organisatoren das Potenzial für Fan-Ausschreitungen, doch außerhalb des Protokolls rechneten wenige Experten mit massiven Zusammenstößen. Zu abschreckend sei der Repressionsapparat für Hooligans, glaubten sie, zu einschüchternd. Welch ein Irrtum.

Die Bilder, die in den vergangenen Tagen aus Marseille in die Welt gingen, waren bei einem großen Turnier seit anderthalb Jahrzehnten nicht mehr zu sehen, seit der EM 2000 in Belgien und den Niederlanden. In der Schlussphase des Spiels England gegen Russland (1:1) am Samstagabend stürmten russische Fans im Stade Vélodrome den Block des Gegners und prügelten auf englische Anhänger ein. Fackeln flogen auf den Rasen, Böller krachten. Attackierte flüchteten in den Innenraum.

Sicherheitskonzept unter Beobachtung

Seit Donnerstag war es in der Stadt an drei Tagen hintereinander zu heftigen Zusammenstößen gekommen - zwischen englischen, russischen und französischen Fans. Die Fernsehbilder zeigen, wie breitschultrige Männer mit Plastikstühlen, Eisenstangen und Flaschen aufeinander losgingen. Die Polizei setzte immer wieder Tränengas und Wasserwerfer ein. 35 Menschen sollen verletzt sein, ein englischer Fan schwebt in Lebensgefahr. "Die Schande", titelte die Sportzeitung "L'Équipe" am Sonntag.

Die Empörung, die von Tag zu Tag lauter wurde, gipfelte in Schuldzuweisungen. Englische und russische Fanvertreter wollen die ersten Provokationen jeweils bei den gegnerischen Anhängern ausgemacht haben. Zusammen kritisierten sie das angeblich überharte Vorgehen der französischen Polizei, die seit den Terroranschlägen im November im Dauereinsatz ist. Der Europäische Verband UEFA räumte Fehler bei der Trennung von englischen und russischen Fans im Stadion ein und leitete ein Verfahren gegen den russischen Verband RFS ein. Ermittelt wird wegen Aggressionen russischer Zuschauer im Stadion, rassistischen Verhaltens in der Form von Affenlauten und des Abbrennens von Feuerwerkskörpern. Ob und wie der Verband bestraft wird, entscheidet sich am Dienstag (14. Juni). Außerdem werden ab sofort bei allen Partien mehr Sicherheitsleute eingesetzt.

"Isis - where are you?"

So hat die EM ihren ersten Skandal. Doch man sollte die Vorfälle in Marseille in einem größeren Rahmen betrachten: Über viele Jahre war die Hooligan-Gewalt aus dem Blickfeld des europäischen Spitzenfußballs geraten. Kampagnen beschäftigten sich mit Rassismus oder Homophobie. Doch in jüngerer Vergangenheit haben sich in mehreren Ländern neue Gruppierungen und Allianzen gebildet. Mit unterschiedlichen Hintergründen, aber mit dem gleichen Ziel: Gewalt im Umfeld des Fußballs.

Deutsche Hooligans liefern sich während der Fußball-EM im belgischen Charleroi Auseinandersetzungen mit der ortsansässigen Polizei (Foto: picture-alliance/dpa/O. Berg)
Szenen, die eigentlich der Vergangenheit angehörten: Deutsche Hooligans bei der EM 2000 in ChaleroiBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

In Deutschland traten zuletzt immer mehr Hooligans in Erscheinung, die sich in den Nuller-Jahren noch bedeckt gehalten haben. Sie attackierten antirassistische Ultras in Aachen, Braunschweig oder Duisburg. Zeitweilig vernetzten sie sich unter dem Namen "HoGeSa", Hooligans gegen Salafisten. Dresdener Anhänger der SG Dynamo sind bei Pegida dabei, ähnlich sieht es bei Ableger der rechtsnationalen Bewegung aus.

Auch aus Polen und Russland, aus Ungarn und Belgien, selbst aus Skandinavien werden Entwicklungen wie diese beschrieben, in unterschiedlichem Ausmaß. Gewaltbereite Fans, gestählt in Kampfsportstudios, machen Stimmung gegen Geflüchtete. Mit Bannern, Gesängen, Demonstrationen. In Marseille, wo rund 200.000 Muslime leben, brüllten englische Fans: "Isis - where are you?" Sie verglichen die Einwohner mit den mordenden Terroristen des sogenannten Islamischen Staates.

Risikospiel Deutschland gegen Polen

Ob der Rechtsruck in Europa und die wachsende Islamfeindlichkeit die Hemmschwelle für Gewalt und Schmähungen im Fußball sinken lässt? In Frankreich wird es weitere Risikospiele geben, etwa Deutschland gegen Polen am Donnerstag in Paris. Die deutschen Behörden haben potentiellen Störern schon vor Wochen klar gemacht, dass sie beobachtet werden, in so genannten Gefährderansprachen. Der DFB verkauft seine Tickets ohnehin nur über den eigenen Fanclub Nationalmannschaft. Aus Deutschland sind zwölf Sozialarbeiter und Pädagogen in Frankreich unterwegs, um für deutsche Fans eine möglichst freundliche Atmosphäre zu schaffen.

Der Ursprung für diese sogenannte Fan-Botschaft liegt in England. Seit 1990 werden britische Anhänger von mehreren Sozialarbeitern zu Länderspielen begleitet. Als Reaktion auf die Stadion-Katastrophen mit dutzenden Todesfällen in den achtziger Jahren wurden die Stehplätze auf der Insel abgeschafft und die Sicherheitsmaßnahmen nicht nur in neuen Stadien verbessert. Eine Hooligan-Datenbank wurde eingerichtet, ein Netzwerk von Fahndern in zivil geknüpft.

Prävention in Russland erst am Anfang

Nach der Jahrtausendwende rückte die Prävention in den Vordergrund. Insgesamt 2500 Mitarbeiter kümmern sich bei den 20 Vereinen der Premier League um rund 850 Projekte. Sie geben Nachhilfe, organisieren Bibliotheksbesuche, fördern Mädchen, planen Turniere auf Minispielfeldern. Der Oberbegriff: "Football in the Community" - Fußball in der Gemeinde. Auch der englische Fußballverband FA stößt Kampagnen an. Seine Verantwortlichen müssen dem britischen Sportministerium einmal im Quartal Bericht erstatten. Zudem ist keine Nichtregierungsorganisation im europäischen Fußball so gut ausgestattet wie die Londoner Antidiskriminierungsinitiative "Kick it out". Auch deshalb sind Gewalt und Rassismus über die Jahre stark zurückgegangen. Umso größer ist nun der Schock nach den Bildern aus Marseille.

Ordner bewachen sitzende Fans von Manchester United (AP Photo/Jon Super)
In England - wie hier im Old Trafford Stadium - gibt es keine Stehplätze mehrBild: picture-alliance/dpa/J. Super

Von dem hohen Sicherheitsstandard ist der Fußball in Russland weit entfernt. Regelmäßig kommt es zu Gewalt und Diskriminierung in den Stadien, die Folgen: Geldstrafen für Klubs und Verbote für Auswärtsfans. Nur langsam werden Strukturen für Prävention aufgebaut, unter sanftem Druck des Weltverbandes FIFA. Die nächste Weltmeisterschaft findet 2018 in Russland statt. Wie die Regierung auf die Krawalle von Marseille reagiert? Russlands Sportminister Witali Mutko sagte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP: "Was hat die WM 2018 damit zu tun?"