Mit den Augen des Malers
31. Juli 2018Ich bin mit Armin Thommes verabredet. Er ist Maler, Turner-Kenner und der Mann, der sich die William Turner-Route entlang des Mittelrheintals ausgedacht hat. Aus einem schmalen Schnellhefter fischt er Kopien jener Aquarelle, die die Turner-Route markieren. Ich sehe zarte, zerfließende Farben. Konturen sind nur zu erahnen. Dann wieder leuchten Burgenruinen in kräftigem Orange und Violett. Und dieses Licht! “Turner hat mit seinem Stil den Impressionismus vorweg genommen“, erklärt mir Thommes. Und noch etwas lerne ich: Turners Landschaftsbilder trugen wesentlich zu dem Reiseboom bei, der im 19. Jahrhundert am Mittelrhein einsetzte.
Der englische Maler machte 1817 die erste von mehreren Rheinreisen. In zwei strammen Tagesmärschen wanderte er von Koblenz nach Bingen. Ich überschlage schnell: Das sind fast 60 Kilometer, also etwa 30 Kilometer am Tag. Alle Achtung! Ich bin froh, dass wir in der Sommerhitze nur eine kurze Strecke vor uns haben: Von St. Goar aus folgen wir dem Rheinufer zum südlichen Ortsausgang, wo Turner eine Loreleyansicht gemalt hat. St. Goar liegt schräg gegenüber des berühmten Felsens. Der Brite skizzierte beim Wandern am Rheinufer um die 100 Blätter. Erst zu Hause in England kam die Farbe hinzu. So entstanden rund 50 großformatige Aquarelle und Ölgemälde der Rheinromantik. Maler und Dichter dieser Strömung einte, die Rheinlandschaft als Sehnsuchtsort darzustellen.
An manchen Stellen erahne ich den Treidelpfad, den Turner nahm. Wo damals Pferde die Frachtschiffe rheinaufwärts zogen, verläuft heute der Rheinufer-Radweg. Aber auch die Bundesstraße 9. Der Autolärm ist ein zartes Brummen verglichen mit dem Höllenlärm der Züge, die im Minutentakt durch das enge Rheintal donnern. Turner erlebte hier Stille. Das will ich mir für einen Moment vorstellen. Blende den Lärm aus, radiere den Campingplatz am Flussufer mit seinen Wohnwagen aus dem Panorama, die Fracht- und Ausflugsschiffe ebenfalls. Ich gestatte mir in meiner Phantasie ein Segelboot, das lautlos rheinabwärts treibt. Endlich. Das gleichmäßige Rauschen des Flusses. Stille. Ach! Ich beginne zu verstehen, dass man nach so einem Ort Sehnsucht haben kann.
Seit 2005 durchforstet Armin Thommes systematisch die Uferlandschaft zwischen Koblenz und Bingen, schreckt weder vor dornenbewehrten Brombeerhecken noch vor unwegsamen, steilen Uferböschungen zurück. “Aber noch etwas anderes macht die Orientierung manchmal schwer“, gesteht Thommes: “Turner hat es mit der Realität nicht so genau genommen. Die Wirkung war für ihn das A und O.“ Wo das Drama in der Natur fehlte, half der Maler nach. Er kombinierte Blickachsen und verschob schon mal eine Burg oder einen Turm. “Gut zu sehen beim Blick auf Oberwesel“, verspricht Armin Thommes.
Oberwesel also, zwei Flussbiegungen und sieben Kilometer weiter rheinabwärts. Gemalt hat Turner den Ort von einem erhöhten Aussichtspunkt. Den hat Armin Thommes einwandfrei identifiziert. Wie Turner dahin kam, ist unbekannt. Wir nehmen den Höhenweg. Hoch über dem Rheintal, gegenüber der Loreley laufen wir los. In flirrender Hitze geht es durch Weizenfelder, kühle schattige Waldabschnitte und Weinberge. Ab und zu erhaschen wir einen Blick auf den Rhein tief unter uns und erreichen dann gleichzeitig mit gefühlten fünf Reisebussen unser Ziel.
Armin Thommes blättert in seinem Schnellhefter: der Blick auf Oberwesel von Turner. “Da war eine zweite Blickachse im Spiel, schauen Sie mal.“ Links im Bild strahlt ein weißer Turm. Tatsächlich, den kann Turner aus dieser Position unmöglich gesehen haben. Gibt seiner Landschaftsdarstellung aber das gewisse Etwas. An 26 Standpunkten, die Armin Thommes lokalisiert hat, kann jeder diese Landschaft mit den Augen des Malers sehen. Und verstehen lernen, wie Turner es geschafft hat, nicht nur die Landschaft zu malen, sondern ihre Essenz einzufangen. Ein Gefühl.
Zu Turners Zeit war es in Intellektuellenkreisen “in“ an den Rhein zu reisen. Erst mit der Auseinandersetzung der Maler, Literaten und Denker wurde die Landschaft zu etwas Außergewöhnlichem verklärt. “Ihre Werke kennt man heute als Rheinromantik“, erklärt Thommes. Arkadien am Mittelrhein also. Und Turner gab dieser Sehnsucht ein Gesicht.
Auf das, was folgte, war das Mittelrheintal nicht vorbereitet. Es wurde eines der frühesten Beispiele für Massentourismus in Europa. Heute überrollen Hundertausende Sehnsuchtsort-Touristen jährlich das Tal, das seit 2002 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Ideen wie die von Armin Thommes sind willkommen. “Die Turner-Route spricht kulturell interessierte Besucher an, aber auch solche, die noch nie etwas von William Turner gehört haben“, freut sich Bertram Beck, Vorsitzender des Zweckverbands Mittelrheintal.
Wir sind zurück in St. Goar, wo wir am Morgen losgelaufen waren. In dem kleinen Ort übernachtete Turner gerne, wenn er am Rhein unterwegs war. Thommes ist hier zu Hause. In St. Goar gibt es, wie in vielen Orten des Mittelrheintals, eine schwindelerregende Ansammlung von Souvenirläden. Für mich echte Romantikkiller. Ich flüchte mich am Abend an den William Turner-Platz, ein letzter Tipp von Armin Thommes. Nichts weiter als ein paar breite, weiße Stufen mit schlichten Steinbänken am Rheinufer. Hinter mir die Burg Rheinfels, links die Burg Maus, gegenüber die Burg Katz und vor mir der Rhein in der Abendsonne. Das Wasser tiefblau. Hier stand vor fast zweihundert Jahren William Turner. Und war vielleicht so verzaubert wie ich jetzt.