Zuflucht in der Kunst - Sempé zum 85.
17. August 2017Ein Künstler, der nach Perfektion strebt, ist mit seiner Arbeit selten zufrieden. Daher war es wahrscheinlich keine Koketterie, als der französische Karikaturist Jean-Jacques Sempé einmal bekannte, dass ihm seine Arbeit nur selten Spaß mache. "Ich sehe in meinen Bildern immer nur die Mängel", sagte der Zeichner der "Süddeutschen Zeitung". An diesem Donnerstag (17.08.2017) wird Jean-Jacques Sempé, der Erfinder des kleinen Nick, 85 Jahre alt.
Dabei sind es heitere Motive, die Sempé erschafft: Er komponiert Momente mit feiner Ironie. Und besonders jene Figur eines kleinen Jungen, in Schlips und Schuluniform samt Kniestrümpfe gesteckt und mit einem verschmitzten Grinsen ausgestattet, symbolisiert die Sehnsucht nach einem unbekümmerten Leben. Nur haben genau diese Geschichten mit der Realität nicht viel gemein, meint der Künstler. Die Inspiration für lustige Zeichnungen sei niemals im Leben zu finden, "man muss sie immer erfinden". Der kleine Nick projiziert Sempés Ideal, er trägt seine Charakterzüge.
Schon mit zwölf begann er zu zeichnen
Sempé wuchs in Bordeaux auf - auf seine Kindheit blickt er kritisch zurück: Von der Mutter gab es Ohrfeigen, der Vater hatte ein Alkoholproblem, ständig gab es Streit. In der Schule träumte sich der junge Jean-Jacques in andere Welten, mit zwölf Jahren begann er zu zeichnen. Bald sei ihm klar geworden, fortan glückliche Menschen aufs Papier bringen zu wollen. Als er von der Schule flog, fasste er den Entschluss, die Heimat hinter sich zu lassen: Sempé fälschte sein Geburtsdatum und machte sich älter, um nach Paris zum Militär gehen zu können. Dass er das Zeichnen später tatsächlich zum Beruf machte, führt der Jubilar auf seine begrenzten Fähigkeiten zurück: Er habe schlicht nichts anderes Vernünftiges machen können.
Mit seinen Karikaturen scheiterte Sempé nicht: Seine Bücher verkauften sich millionenfach und wurden in 30 Sprachen übersetzt. Seine Werke zieren die Titel von "Paris Match" und dem "New Yorker", die großformatigen Blätter, auf denen Sempé stets zeichnet, werden für mehrere tausend Euro gehandelt.
Der Durchbruch kam mit Ende 20
Im März 1959 erschien die erste Geschichte des "Petit Nicolas", wie der kleine Nick im französischen Original heißt - sie wurde in der Regionalzeitung "Sud-Ouest" abgedruckt. Wie sein Erfinder selbst ist Nicolas in der Schule nicht der beste. Er bevorzugt alles, was sich außerhalb abspielt. Auch Sempé sagt von sich, er sei mit seinen Gedanken stets woanders. Mit Nick hat er nach eigenen Worten eine Traum-Kindheit erschaffen: Prügel, die nicht schmerzen, und Streit, der nicht in Trennung endet. Die Texte lieferte der 1977 verstorbene René Goscinny, Autor der Asterix-Hefte. Die Geschichten sind Zuflucht - für Sempé wie für seine Leser. Im Gesprächsband "Kindheiten" gibt der Meister Einblicke in seine jungen Jahre: "Ich weiß nicht, ob es überhaupt Menschen gibt, die eine glückliche Kindheit hatten." Es ist bekannt, dass seine Ehe scheiterte und er zu seinen Kindern kaum Kontakt hat. "Mensch zu sein braucht enorm viel Tapferkeit", sagte Sempé zum Unterschied zwischen Kunst und Realität.
Er raucht Selbstgedrehte (wie es Pariser Künstler nun einmal tun) und gilt als reserviert bis schwierig. Eine andere Leidenschaft des "Genies der Komik", als das ihn der US-Komponist Leonard Bernstein einst bezeichnet hat, ist die Musik: Sempé hört Bebop und bewundert Jazz-Größen wie Count Basie und Duke Ellington.
Der Unterschied zwischen Kunst und Realität
2009, zum 50. Jubiläum des kleinen Nick, kam eine Realverfilmung in die Kinos. Nicks 50. Geburtstag nahm sein "Vater" Sempé außerdem zum Anlass, zum ersten Mal seit Jahrzehnten neue Geschichten seines kleinen Helden zu zeichnen. Und das, obwohl er nur zwei Jahre zuvor bei einem Skiunfall Gehirnblutungen erlitt, in deren Folge er monatelang im Koma lag. Anschließend musste er alles von Neuem lernen: Gehen, Sprechen, auch das Zeichnen. Anfangs band er sich die Finger zusammen, um ein Verzittern seines Strichs zu vermeiden, später führte er mit der linken Hand den Zeigefinger der rechten. Seinen Arbeiten sieht man diese Einschränkung nicht an.
Noch heute steht Jean-Jacques Sempé täglich in seinem Atelier über den Dächern von Paris an seinem Tisch und zeichnet. Er behauptet von sich, kein genauer Beobachter zu sein - doch seine Werke zeugen sowohl von einer großen Aufmerksamkeit wie auch von der Fähigkeit, nicht in der Vergangenheit zu veharren: Im 2014 erschienenen Buch "Sturmböen und Windstille" zollt er dem technischen Fortschritt Tribut: Wie immer beobachtet er seinen Helden in Alltagssituationen, häufig durch ein Fenster in ihren Wohnungen. Dort stehen sie nun - mit einem Mobiltelefon am Ohr.