Misophonie: Wenn Geräusche unerträglich werden
2. Oktober 2019Im Alter von etwa zehn Jahren begann Jelle unter verschiedenen Geräuschen zu leiden. Angefangen habe alles mit dem Kaugeräusch seiner Schwester, erzählt sein Vater, Andreas Seebeck. "Dann waren es plötzlich die Kaugeräusche seiner Mutter. Die waren für ihn furchtbar." Jelle vermied es, wenn es irgendwie ging, mit seiner Familie am Tisch zu sitzen und gemeinsam zu essen. "Irgendwann reichte es schon, wenn er die Kieferbewegungen seiner Mutter sah, um wütend zu werden", ergänzt Seebeck. Er ist Heilpraktiker für Psychotherapie und hat sich vor etwa drei Jahren auf Misophonie spezialisiert, um seinem Sohn so gut wie möglich helfen zu können.
Zunächst dachte er, es handele sich um eine Phobie. Die werden meist mit Konfrontationstherapien behandelt. Dabei muss sich der Patient seinen Ängsten stellen, ihnen entgegentreten. Auch Hypnose und Anti-Aggressionstherapien setzte Seebeck ein, aber nichts half. Heute weiß er, dass Misophonie ein erworbener Reflex ist. "Die Muskeln aktivieren den Bereich des Gehirns, der für Wut verantwortlich ist", erklärt Sdebeck. "Das ist auch der Unterschied zu Menschen, die ein Geräusch einfach nicht mögen."
Wenn sich das Phänomen bei Kindern bemerkbar mache, sollten Eltern ihre Kinder nicht dazu zwingen zum Beispiel am Esstisch sitzen zu bleiben, rät der Heilpraktiker. "Ganz schlimm sind Sätze wie 'Reiß dich jetzt mal zusammen'."
Probleme in der Schule
12 Jahre lang lief die Familie von einem Therapeuten zum nächsten. Keiner konnte Jelle helfen. Alles sei nur schlimmer geworden, erzählt Seebeck. "Es sind immer mehr Trigger dazugekommen. In der Schule wurde er zum Außenseiter." Ein Lehrer berichtet Seebeck über das Verhalten seines Sohnes in der Schule. Er sitze in einer Ecke und ziehe sich den Kapuzenpullover übers Gesicht, schaue ständig auf den Boden. "Das war sehr schockierend für uns."
Bei den meisten beginnt Misophonie im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren. Es gebe typische Situationen, die eine Misophonie auslösen könnten, so Seebeck. "Ein Kind kommt nach der Schule gestresst nach Hause, die Familie sitzt am Tisch. Plötzlich fallen dem Kind die Essgeräusche eines Familienmitgliedes auf. Das kann ein Trigger sein, also ein Auslöser. "Gerade Menschen, die den Betroffenen besonders nah sind und die sie lieben, lösen diese Gefühle aus", erklärt Seebeck.
Quälende Kaugeräusche
In der Schule gibt es überall Geräusche, die zum Trigger werden können: das Klicken eines Kugelschreibers, das Klopfen mit den Fingern auf den Tisch und vor allem Kaugummikauen. Darunter leiden fast alle Misophoniker. Sie alle beschreiben Kaugeräusche als den ersten Trigger im Verlauf ihrer Misophonie.
So war es auch bei Heinz Funke. Mit der Zeit kamen immer mehr Auslöser hinzu: "Essgeräusche, Kaugummi, das Essen von Chips, einer Gurke, einer Möhre oder einem Apfel – das ist die Hölle. Dann geht es weiter mit Atemgeräuschen anderer Menschen", erzählt der 53-jährige. Bei ihm geht der Puls nach oben, und er will nur noch weg.
Aber auch das Geräusch von Schuhen oder Flip-Flops treibt Funke in den Wahnsinn. "Als ich klein war, hat meine Mutter oft Sandalen getragen. Ich habe diese Schuhe gehasst. Als sie einmal nicht im Haus war, habe ich mir ein Messer genommen und die Schuhe kaputt gemacht. Später habe ich dann gesagt, das sei der Hund gewesen. Ich wollte nicht erklären müssen, warum ich das wirklich gemacht habe."
Heinz Funke hatte Probleme in der Schule und auch später, bei seiner Arbeit als Fachlagerist in einem Logistikunternehmen. Auch dort gibt es jede Menge Geräusche, die für ihn unerträglich sind. Er wird lange Zeit krankgeschrieben. Nach familiären Einschnitten und einem Hörsturz lässt er sich in die Psychiatrie einweisen. Aber selbst dort kennt sich niemand mit Misophonie aus.
Großer Leidensdruck
Depressionen sind eine häufige Begleiterscheinung bei Misophonie. Auch Jelle leidet darunter. Er nimmt Medikamente dagegen und auch gegen seine unbändige, innere Wut, die so manches Geräusch bei ihm auslöst. Er ist heute 27, hat erfolgreich eine Ausbildung zum Erzieher absolviert und will am liebsten nicht mehr an die Anfänge seiner Misophonie denken.
Für Heinz Funke hingegen ist es wichtig, dass Misophonie mittlerweile ernst genommen wird und dass sich die Forschung mit diesem Gebiet beschäftigt. Allerdings gilt Misophonie nach wie vor nicht als Krankheit im klassischen Sinn.
Was genau es mit dieser Störung und der Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen auf sich hat, ist noch lange nicht erforscht. Internationale Studien schätzen aber, dass jeder zehnte bis jeder zwanzigste unter Misophonie in einer mehr oder weniger ausgeprägten Form leidet. Mit etwa 20 Prozent sind Frauen dabei nahezu doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Nötige Rückzugsorte
Andreas Seebeck hat mittlerweile schon einiges an Erfahrungen gesammelt, um Misophonikern zu helfen. Eine Methode, die er anwendet, haben Wissenschaftler der Universität Amsterdam entwickelt. Dabei werden Geräusche, die eine Misophonie auslösen, verfremdet. Sie werden mal langsam und mal schnell abgespielt, mal in hohen Tonlagen oder in tiefen. Diese Ablenkung hilft, dass sich der Betroffene nicht intensiv auf das störende Geräusch konzentriert.
Heinz Funke schläft zuhause in einem eigenen Zimmer. Die Atemgeräusche seiner Frau würden ihn wahnsinnig machen. Zum Essen zieht er sich meist zurück. Ihm hilft es, in der Natur zu sein. Vogelgezwitscher sei für ihn das schönste, was es gibt. Auch Musik hört er gerne. Seine Lieblingsband ist Pink Floyd. "Ich setze mir dann die Kopfhörer auf und konzentriere mich auf die Musik. Dann höre ich keine Umgebungsgeräusche mehr. Dann geht es mir gut."