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Kunst

Miriam Cahn in Siegen

Julia Hitz
26. Juni 2022

Die Schweizerin gehört zu Europas bedeutendsten Künstlerinnen: radikal, kompromisslos und unabhängig thematisiert sie Frausein, Geschlecht, Liebe, Sexualität, Gewalt, Antisemitismus, Krieg und Flucht.

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Portrait der Künstlerin Miriam Cahn in der Kunsthalle Kiel, 2016
Die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn 2016Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance

Ihre Ausstellungen richtet Miriam Cahn immer selbst und ganz intuitiv ein. Eine eiserne Regel ist aber: Die dargestellten Figuren müssen für die Betrachtenden auf Augenhöhe sein. Die Kunstinstallationen der 72-Jährigen aus farbintensiver Malerei, raumhohen Zeichnungen, Videos und Plastiken wirken direkt, intensiv, oft auch beklemmend.

Von der Stadt Siegen bekommt die Schweizer Künstlerin nun den Rubenspreis verliehen. Der Preis würdigt seit 1955 alle fünf Jahre einen Maler oder eine Malerin, der oder die sich im europäischen Kunstschaffen durch ein wegweisendes künstlerisches Lebenswerk ausgewiesen haben. Zu den bisherigen Preisträgern gehören Francis Bacon, Cy Twombly, Maria Lassnig oder Sigmar Polke. Nun ist im Museum für Gegenwartskunst in Siegen eine große Schau der Arbeiten von Miriam Cahn zu sehen. 

Ausstellung in Siegen: "MEINEJUDEN"

In 14 eigens von der Künstlerin konzipierten Räumen präsentiert sie wichtige Werkgruppen und Installationen der letzten fünf Jahrzehnte, darunter viele neue Arbeiten. Den Ausstellungstitel hat die Künstlerin selbst gewählt - und setzt sich in aktuellen Werken erneut mit dem Jüdischsein auseinander.

Malerei von Miriam Cahn zeigt nackte Frau mit großem roten Bündel auf dem Kopf. Es heißt "mein gepäck mit den armen meiner grossmutter tragen"
Cahns Großmutter hatte 1933 den Mut zu sagen, "Entweder Hitler oder ich" und flüchtete alleinerziehend mit ihren zwei Söhnen von Deutschland in die Schweiz. Das Bild heißt: "mein gepäck mit den armen meiner grossmutter tragen"Bild: Heinz Pelz

Sie zeige deswegen auch "ALLES: landschaften-tiere-pflanzen-personen-situationen-waffen-sex etc usw. und auch arbeiten die behaupten: das ist ein Jude/Jüdin, das ist Jüdischkeit, das ist Judentum", so wird Cahn im Ausstellungskatalog zitiert. Die Ausstellung sei keine Retrospektive im klassischen Sinne oder gar eine chronologische Schau, sondern eine Großinstallation, in der sich fünf Jahrzehnte des Kunstschaffens Miriam Cahns (von 1975 bis 2022) und Zeitgeschichte verdichten. 

Frausein: radikal weiblich gesehen

Miriam Cahn wird heute als eine der weltweit bedeutendsten Künstlerinnen angesehen. Bereits 1982 wurde sie zur documenta 7 in Kassel eingeladen, 1984 war sie auf der Venedig Biennale vertreten. Als überzeugte Feministin, Aktivistin in der Schweizer Frauenbewegung und Künstlerin stellte Miriam Cahn seit den 1970er-Jahren den Körper ins Zentrum, insbesondere den weiblichen Körper.

14 Kreidezeichnungen der Werkreihe "Wachraum" von 1982 zeigen schemenhafte weibliche Figuren und geometrische Formen
Ein Teil der Installation "Wachraum" wurde 1982 auf der documenta 7 gezeigt: raumhohe Kreidezeichnungen, mit denen Cahn weibliche und männliche Formsprache kontrastierteBild: Oliver Roura

Sie betont das Weibliche in einer von männlichen Machtverhältnissen und Gesetzen dominierten Welt. Es geht ihr um eine radikale Gleichberechtigung innerhalb der Gesellschaft und eine Gleichstellung der Geschlechter. Dazu präsentiert sie ungewohnte und unbequeme Perspektiven: Situationen von Lust, Sex und Geburt werden aus weiblicher Sicht erzählt. Gewaltvolle Gegenüberstellungen, rohe Szenen wechseln sich ab mit intimen, zärtlichen Momenten. Sex ist ein zentrales Element der Zeichnungen und Gemälde. Liebe, Lust und Gewalt liegen oftmals eng beieinander. Denn Unterdrückung, Rassismus und Macht äußern sich auch in zwischenmenschlichen Beziehungen, so Cahns Überzeugung. 

Der Körper: Akteur und Instrument

Die Künstlerin legt Ort und Gemütszustand, von dem aus sie malt und zeichnet, stets offen: In selbst verfassten Texten gibt sie etwa bereitwillig Auskunft über ihr Streben nach Unabhängigkeit oder das Älterwerden. Das Schreiben ist ein fester Bestandteil ihres Werkes. 2019 wurden ihre Texte erstmals als Sammelband mit dem Titel "Das zornige Schreiben" veröffentlicht.

Allgegenwärtig in ihrem Werk sind Köpfe und Gesichter in Großansicht, sowie menschliche Körper, oft nackt. Die Körper sind teils schemenhaft, im Zustand der Auflösung dargestellt, teils sind die Konturen - hier vor allem die Genitalien - betont ausgearbeitet.

Malerei der Künstlerin Miriam Cahn: eine in rot gehaltener gebeugter Mensch legt den blau gemalten Kopf vorne auf die eigene Brust. Titel: so fühle ich mich, 19.4.2021
Miriam Cahn betitelt ihre Bilder stets auch mit dem Datum der Entstehung, hier das Werk "so fühle ich mich, 19.4.2021"Bild: Heinz Pelz

Die Entstehung und Präsentation von Cahns Werken ist von einem performanceartigen Arbeiten geprägt. Ihren Körper benutzt die Künstlerin als Instrument: Dynamische, raumgreifende schwarze Kreidezeichnungen (der 1980er-Jahre) entstehen, indem die Künstlerin mit ihrem gesamten Körper auf dem Papier arbeitet und sich auf diesem bewegt. 

Jüdisch sein

In einem selbstverfassten Glossar notiert Miriam Cahn, Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter, zum Judentum: "Das hat mit einer selbstgewählten Zugehörigkeit zu tun. Ich hab' mich mit dieser Geschichte identifiziert. Das hat auch mit dem Namen Cahn zu tun - wenn ich Müller geheißen hätte, wäre das vielleicht anders gekommen." Diskriminierende, antisemitische Äußerungen nimmt die Künstlerin auch in ihrer eigenen Umgebung wahr und muss so "ihre Juden" ständig verteidigen. 

Miriam Cahn steht hinter einem ihrer Gemälde
Miriam Cahn lebt und arbeitet in Stampa, im Kanton GraubündenBild: Lukas Wassmann

Kunst und Politik

Cahn ist sehr am Zeitgeschehen und an aktuellen Debatten interessiert, sie bezieht Position und gibt sich öffentlich provokativ. Zuletzt mischte sie sich lautstark und medienwirksam in die öffentliche Debatte um die nicht geklärten Provenienzen der Kunstsammlung des einstigen Waffenfabrikanten Emil Bührle am Kunsthaus Zürich ein. 

Bild von Miriam Cahn, das eine Frau und ein Kind zeigt, die im Meer versinken
Ganz neues Werk: "das schöne blau, 2021 + 10.1.2022"Bild: Heinz Pelz

Bührle hatte das NS-Regime von der Schweiz aus mit Waffen beliefert - und eine hochkarätige Kunstsammlung vornehmlich französischer Malerei aufgebaut. Unternehmen wie auch Kunstsammlung sollen direkt von den Kriegsgeschäften, Zwangsarbeit, Zwangsverkäufen und Enteignungen profitiert haben. Das empörte Cahn ebenso wie die mangelhafte Provenienzforschung bei einer von Juden und Jüdinnen erworbenen Sammlung. Aus Protest verlangt sie vom Kunsthaus Zürich nun den Rückkauf ihrer eigenen Werke. Die Debatte um die Sammlung Bührle hält bis heute an.

Der Zorn der Miriam Cahn

Miriam Cahns Arbeiten sind nicht bequem. Sie sind sehr direkt, und die vielen Szenen der Gewalt haben eine verstörende Wirkung. Die Künstlerin selbst beschreibt ihre Werke nicht als aggressiv, sondern als zornig - und Zorn als einen guten Motor zum Arbeiten. 

Miriam Cahn möchte die Kontinuität von Rassismus, Antisemitismus, Fremdheitserfahrungen oder Sexismus in der europäischen Gesellschaft offenlegen. Dabei kehrt sie bisweilen die gängige Opfer-Täter-Rolle auf irritierende Weise um. Die Gewalt in den Bildern soll jedoch nicht zum (gewaltvollen) Handeln anregen, betont die Künstlerin, sondern ihre stetige Präsenz in der Welt bewusstmachen.