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Migration: Wie die Kanaren-Route Senegals Familien zerreißt

Robert Adé aus Mbour | Philipp Sandner
6. Oktober 2023

Mehrere Tausend illegale Migranten will Senegals Marine seit Juli aufgegriffen haben. Finanzielle Not und die politische Krise treiben immer mehr in die Flucht - zum Leidwesen der zurückbleibenden Familien.

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Bunt bemalte Boote liegen am Strand von Dakar
Obwohl die Überfahrt mit einem Boot gefährlich ist, ist das Ziel Europa für viele Migranten verheißungsvoll genug, um den Weg zu wagenBild: Zane Irwin/AP Photo/picture alliance

Die Nachricht vom Verschwinden ihres Sohnes traf Aminata Boye unvorbereitet. "Ich wusste nicht Bescheid, als er aufgebrochen ist", sagt sie. "Ich habe nach ihm gefragt und sie haben mir gesagt, dass er aufs Meer gefahren ist." Das Ziel: Spanien. Seit drei Monaten wartet die Frau, die in der zentralsenegalesischen Küstenstadt Mbour einem Netzwerk betroffener Mütter vorsteht, nun auf ein Lebenszeichen des 19-Jährigen. Aber ihre Anrufe blieben unbeantwortet: "Sein Telefon hat geklingelt, aber er ist nicht drangegangen."

Laut der Mutter gehört ihr Sohn zu den Zahlreichen, die vermisst gemeldet wurden - verschollen auf dem Atlantik, auf Höhe der Kanaren. "Ich habe mein Kind auf dem Meer verloren", sagt sie der DW.

Eine ganz andere Erfahrung hat Codou Boye gemacht. Ihr Mann hat es nach Spanien geschafft. Er wartet dort seit drei Jahren auf die Regelung seiner Papiere und kann deshalb nicht zurückkehren, sagt sie. Immerhin überweist er regelmäßig etwas Geld. Gemeinsam mit einer weiteren Frau ihres Mannes versucht sie jetzt, die Kinder durchzubringen.

"Wir schlagen uns so durch, manchmal schaffen wir es nicht, die Bedürfnisse unserer Kinder zu stillen", sagt sie. "Hier ist das Leben schwierig, und wegzugehen, um zu betteln, ist auch keine Lösung. Wir wissen nicht, was ihm passieren wird oder wie lange er dortbleiben wird."

Kanaren-Route sehr gefragt

Viele haben sich in den vergangenen Monaten von der senegalesischen Küste auf den Weg gemacht. Wie viele genau, darüber gibt es keine Angaben. Die senegalesische Marine gibt an, ihre Einsätze verstärkt und seit Juli mehrere tausend illegale Migranten abgefangen zu haben. Allein in der vergangenen Woche seien es mehr als 600 gewesen. Von der DW um genaue Zahlen gebeten, heißt es von staatlicher Seite, diese seien bekannt, aber "vertraulich".

Boot mit Flüchtlingen an der Kanarischen Insel El Hierro
Wer die Kanaren erreicht, hat bereits viele Gefahren überstandenBild: Europa Press/AP/picture alliance

Vom Senegal sind es zwischen 1500 und 2100 Kilometer bis zu den Kanarischen Inseln, die als Teil Spaniens sozusagen das Tor zu Europa sind. Diejenigen, die die gefährliche Überfahrt auf oft überladenen Pirogen schaffen, werden in den offiziellen Statistiken des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) erfasst. Die geben (Stand 1. Oktober) rund 15.400 Migranten an, die im Laufe des Jahres 2023 die Kanaren erreicht haben - deutlich mehr als über die westlichen Mittelmeerrouten. Auf dem Landweg - über die Enklaven Ceuta und Melilla - seien es nur gut 401.

Allein an diesem Freitag erreichten mehr als 500 Menschen in sechs Booten verschiedene der Kanarischen Inseln, wie die spanische Seenotrettung mitteilte. 

Im historischen Vergleich seien diese Zahlen gar nicht so außergewöhnlich, sagt der deutsche Ethnologe und Migrationsforscher Markus Rudolf, der zurzeit an der Addis Abeba University tätig ist. Im jüngeren Kontext lasse vor allem der Wiederanstieg der Migration nach dem Abebben der Corona-Pandemie die Lage dramatisch erscheinen. Dazu komme, dass die anderen Routen weitgehend abgeriegelt seien.

Rücküberweisungen als Überlebensanker

Zudem verschärfe die interne Krise im Senegal die Lage: Im Juni hatte ein Gericht den Oppositionspolitiker Ousmane Sonko der "Verführung der Jugend" für schuldig befunden und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er galt zuvor als aussichtsreicher Kandidat bei der im kommenden Jahr anstehenden Präsidentschaftswahl. Sonkos Inhaftierung hatte massive Protesten mit mindestens 16 Toten zur Folge, weitere Auseinandersetzungen folgten. "Die innenpolitische Lage ist aussichtslos", sagt Rudolf der DW. "Die Proteste haben zu einer noch größeren Resignation geführt."

Infografik Karte Fluchtrouten Kanaren DE

Schon vor der politischen Krise hat die wirtschaftliche Lage wenig Perspektiven geboten. Nicht nur in den kleinen Fischerdörfern, auch in der 200.000-Einwohner-Stadt Mbour fehlen die Jobs. Wirtschaftlich sei die Bedeutung von Rücküberweisungen der Familienangehörigen in Europa gar nicht zu überschätzen, sagt Rudolf. Er hält es für plausibel, dass diese für die Zurückgebliebenen ein weiterer Anreiz sind, die Überfahrt zu versuchen, um so die Familie unterstützen zu können.

Auch andere vermeintlich attraktive Ziele zirkulierten in sozialen Medien und würden von den Menschen wahrgenommen, sagt der Ethnologe: So gelte Nicaragua bisweilen als einfacher Weg, in die USA zu gelangen, was sich in der Realität aber immer wieder als Irrglaube entpuppt habe. "Warum Menschen allerdings erst auf die Kanaren kommen sollten und dann - ohne gültige Papiere - versuchen sollten, nach Amerika weiterzukommen, erschließt sich mir nicht", sagt Rudolf der DW. Einzelne würden es auf dem Seeweg versuchen, indem sie auf Schiffen anheuerten - aber eine Massenmigration sei hier nicht zu erwarten.

Aufklärungsarbeit läuft ins Leere

Zu den Organisationen, die vor Ort Aufklärungsarbeit betreiben, gehört der Nationale Verein der Partner von Migranten (ANPM). In Mbour nimmt sich der Verein auch der trauernden und verlassenen Frauen an - wie Aminata Boye, die seit Monaten ohne ein Lebenszeichen ihres Sohnes ist. Der Verein versucht, die Fischer und Pirogen-Schiffer darüber aufzuklären, was es für die Zurückgebliebenen bedeutet, wenn sie ihre Familien verlassen. Denn oft sind es diese Männer, die mit ihrer Arbeit das Haupteinkommen der Familie stellen.

Fischer auf ihren Booten im flachen Wasser
Die Fischerei ist für viele Menschen in Mbour ExistenzgrundlageBild: robertharding/picture alliance

Zwar gibt es ein neues Regierungsprogramm, um - auch mithilfe der Marine - die Migration zu stoppen. So wolle man der Weltgemeinschaft vorgaukeln, dass Maßnahmen ergriffen würden, glaubt ANPM-Vorsitzender Cheikh Diop. Doch das tatsächliche Problem sei damit nicht gelöst: "Dieser repressive Ansatz zur Eindämmung der Migration funktioniert nicht. Es müssen Alternativen für die Jugendlichen gefunden werden. Solange das nicht geschieht, ist alles vergebene Mühe.''