1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikFrankreich

Migration: Chancen für einen deutsch-französischen Konsens?

Andreas Noll
11. September 2024

Frankreichs neuer Regierungschef Michel Barnier will die Migrationspolitik verschärfen. In Paris benötigt er dafür die Stimmen der extremen Rechten. In Brüssel könnte Unterstützung aus Deutschland kommen.

https://p.dw.com/p/4kSfC
Mehrere Mannschaftswagen der Gendarmerien an einem Grenzübergang im Département Alpes-Maritimes
Frankreichs neuer Premierminister Michel Barnier will die Grenzkontrollen verstärken Bild: Laurent Coust/picture alliance/abaca

Noch sucht Michel Barnier die Minister für seine Regierung, doch was sich in Frankreich ändern soll, hat der neue französische Regierungschef bereits angekündigt. Ganz oben auf der Prioritätenliste des 73-Jährigen steht die irreguläre Migration. "Man hat den Eindruck, dass die Grenzen durchlässig sind wie ein Sieb - und dass die Migrationsströme nicht unter Kontrolle sind. Das werden wir ändern", sagte Barnier in seinem ersten Fernsehinterview nach seinem Amtsantritt vergangene Woche.

Die Umsetzung einer verschärften Einwanderungs- und Asylpolitik könnte dann nicht nur ein neuer Innenminister übernehmen. Französischen Medienberichten zufolge plant Barnier sogar ein eigenes Ministerium für "Immigration, Integration und nationale Identität". Ein solches Ressort wäre das politische Signal, dass sich der Konservative Barnier von "Les Républicains" (LR) zumindest in dieser Frage an der Präsidentschaft seines Parteifreundes Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012) orientiert.

Sarkozy, der vor zwei Jahrzehnten mit seiner Ankündigung, "die Vorstädte mit dem Kärcher zu säubern", auch im Ausland für Schlagzeilen sorgte, hatte 2007 als Staatspräsident erstmals ein solches Ministerium geschaffen. Es war Teil seines verschärften Migrationskurses - mit dem war es Sarkozy zwischenzeitlich gelungen, den Aufstieg der extrem rechten Partei Front National (FN) zu stoppen.

Abhängigkeit von Marine Le Pen

Heute sitzt der ehemalige FN, inzwischen in Rassemblement National (RN) umbenannt, Präsident Emmanuel Macron im Nacken. Bei den Europawahlen wurde der RN mit von Marine Le Pen mit 31,4 Prozent mit Abstand stärkste französische Kraft in Brüssel. Auch bei den vorgezogenen französischen Parlamentswahlen im Sommer gewann die Partei etliche Mandate hinzu. Macrons Bündnis dagegen brach regelrecht ein. "Michel Barnier ist auf die Stimmen des RN im Parlament angewiesen, wenn seine Regierung überleben soll", sagt Jacob Ross, Frankreich-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Marine Le Pen bei einem Radiointerview
Baut ihren Einfluss aus: Marine Le Pen vom rechten Rassemblement National (RN)Bild: Jerome Domine/abaca/picture alliance

Dass Marine Le Pen - anders als die ebenfalls erstarkte vereinigte Linke - keine Eile hat, im Parlament einen Misstrauensantrag gegen Barnier zu stellen, dürfte auch mit der Aussicht auf eine weiter verschärfte Asyl- und Migrationspolitik zusammenhängen. "Barnier hat in der Vergangenheit mehrfach betont, dass er im Brexit eine Antwort auf den Kontrollverlust der nationalen Politik sieht. Er befürchtet, dass, wenn sich an der Einwanderungspolitik in Europa nichts Grundlegendes ändert, dies langfristig das gesamte europäische Projekt in Frage stellt", so Ross.

Wahlkampf mit dem Thema Zuwanderung

Um diese Entwicklung zu verhindern, setzt Barnier auf eine verschärfte Einwanderungspolitik. Details hat der neue Regierungschef zwar noch nicht bekannt gegeben, aber sein Wahlkampf vor drei Jahren für die Präsidentschaftskandidatur von LR gibt Hinweise auf das, was von ihm zu erwarten ist.

Michel Barnier am Sonntag im Gespräch mit Ex-Präsident Sarkozy
In der Tradition von Sarkozy? Michel Barnier am Sonntag (8.9.24) im Gespräch mit Ex-Präsident SarkozyBild: Michel Euler/AP

Damals machte sich der frühere Außenminister für beschleunigte Asylverfahren stark, forderte Einschränkungen beim Familiennachzug und dachte laut darüber nach, die Aufnahme von Asylbewerbern vorübergehend zu stoppen, möglicherweise für mehrere Jahre. Selbst Verfassungsänderungen schienen kein Tabu zu sein, um im Zweifelsfall nationales Recht über EU-Recht zu stellen. Die Maßnahmen sollten dem Ziel dienen, die nationale Souveränität in der Migrationspolitik wiederherzustellen und die Integration der Einwanderer zu fördern. Präsidentschaftskandidat wurde er damit gleichwohl nicht.

Die nötigen Stimmen des RN im Parlament für entsprechende Verschärfungen dürften ihm zwar sicher sein, ansonsten trennen Barnier und Le Pen politisch jedoch Welten. Barnier gilt als Mann der Mitte, der das europäische Integrationsprojekt und die EU-Institutionen nicht grundsätzlich in Frage stellt. Le Pen will Frankreich zwar nicht mehr wie früher aus der EU führen, die Beziehungen zu Brüssel will sie aber radikal ändern. 

Härtetest für Macrons Partei

In der Nationalversammlung kann sich Barnier lediglich auf die weniger als 50 Abgeordneten seiner Partei und die Präsidentenallianz stützen. Die beiden Lager hatten sich trotz der Oppositionsrolle von Barniers LR bereits 2023 auf eine Verschärfung der Migrationspolitik geeinigt. Das führte damals allerdings zu Spannungen im Macron-Lager, das zunächst auch viele linke Politiker angezogen hatte. Die Reform im vergangenen Jahr sah unter anderem jahrelange Wartezeiten für den Zugang zu Sozialleistungen für bestimmte Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten vor.

Demonstrierende Menschen, die meisten augenscheinlich mit afrikanischen Wurzeln
Proteste gegen die Verschärfung der Einwanderungspolitik in Frankreich (Paris, Dezember 2023)Bild: Mohamad Alsayed/Anadolu/picture alliance

Zahlreiche Verschärfungen wurden jedoch kurz darauf vom Verfassungsrat verworfen. Teils, weil das Gericht in einzelnen Paragraphen Verstöße gegen die Verfassung erkannte, teils wegen Verfahrensfehlern. So kippten die Richter die Regelung, dass die Nationalversammlung eine Obergrenze für die Aufnahme von Migranten festlegt, mit dem Hinweis auf einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung. Verfassungskonform könnte eine Obergrenze dennoch sein.

Verhandlungsgeschick gefragt

In den kommenden Monaten dürfte das Verhandlungsgeschick von Michel Barnier nicht zuletzt auf europäischer Bühne gefragt sein. Als ehemaliger EU-Chefunterhändler für den Brexit kennt Barnier die Spielregeln in Brüssel sehr gut. Die sogenannte Dublin-Verordnung und der Schengener Grenzkodex setzen hohe Hürden für längerfristige Grenzkontrollen und Zurückweisungen an den Grenzen.

Portrait von Michel Barnier vor einer großen Leinwand mit dem Logo der EU-Kommission
Als Brexit-Chefunterhändler vertrat Barnier die Interessen der EUBild: Emmanuel Dunand/AFP/Getty Images

Danach dürfen Grenzkontrollen an den Binnengrenzen im Schengen-Raum nur eine vorübergehende Ausnahme sein. Zuletzt ist allerdings die Zahl der EU-Staaten gestiegen, die in der Migrationspolitik auf nationale Alleingänge setzen und die EU-Regeln zumindest teilweise ignorieren.

Neuauflage des deutsch-französischen Tandems?

Michel Barnier, der kein grundsätzliches Interesse an einer Aushöhlung des EU-Rechts haben dürfte, kommt nun womöglich die politische Dynamik in Deutschland entgegen. Kurz nach Barniers Amtsantritt kündigte die deutsche Innenminister Nancy Faeser bis auf weiteres Grenzkontrollen und "europarechtskonforme Zurückweisungen" an allen deutschen Grenzen an. Mit dem sich abzeichnenden Kurswechsel könnte Frankreichs wichtigster EU-Partner auch für eine härtere Migrationspolitik in Europa zum Verbündeten werden.

Angela Merkel und Michel Barnier begrüßen sich in einem gut gefüllten Konferenzraum
Gehören zu gleichen europäischen Parteienfamilie (EVP): Angela Merkel und Michel Barnier (2015)Bild: Wiktor Dabkowski/picture alliance

Die Debatte in Frankreich ist gleichwohl deutlich weiter als in Deutschland. Die im vergangenen Jahr gegen Proteste in der Bevölkerung beschlossene Migrationsreform geht weit über das hinaus, was in Deutschland aktuell mehrheitsfähig erscheint. Zurückweisungen an der Grenze sorgen in Frankreich schon lange nicht mehr für Schlagzeilen. Im Jahr 2017, als Emmanuel Macron erstmals in den Élysée-Palast gewählt wurde, stoppten französische Sicherheitskräfte allein an der französisch-italienischen Grenze mehr als 50.000 Menschen. Die Kontrollen fanden nicht nur auf der Straße und in den Zügen statt, sondern auch mit Patrouillen in den Bergen.