Merkel, Maas & Müller rechtfertigen ihre Afghanistan-Politik
28. November 2024Deutschlands prominenteste Politikerin wird als letzte Zeugin im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages erscheinen: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel soll Anfang Dezember erklären, warum die von ihr geführte Bundesregierung im August 2021 von der schnellen Machtübernahme der radikalislamischen Taliban völlig überrascht wurde und die Evakuierung sowohl deutscher Staatsbürger als auch afghanischer Ortskräfte teilweise chaotisch ablief.
Vor der ehemaligen Regierungschefin, die gerade ihre Memoiren unter dem Titel "Freiheit" veröffentlicht hat, sind zwei ihrer damaligen Kabinettsmitglieder an der Reihe: Außenminister Heiko Maas und Entwicklungsminister Gerd Müller. Der Sozialdemokrat (SPD) Maas hatte noch kurz vor dem kampflosen Einmarsch der Islamisten in die Hauptstadt Kabul ein solches Szenario ausgeschlossen.
Heiko Maas: "Wir haben die Lage falsch eingeschätzt"
Am 16. August 2021 musste Deutschlands Chefdiplomat einräumen, dass es nichts zu beschönigen gebe: "Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt." Drei Jahre danach will der Untersuchungsausschuss von Maas wissen, wie er die Afghanistan-Politik innerhalb der Bundesregierung erlebt habe. "Die Zusammenarbeit im Kabinett war sehr transparent und intensiv", antwortet der Zeuge.
In einzelnen Sachfragen habe es unterschiedliche Auffassungen gegeben, räumt er ein. "Aber alle haben sich bemüht, das Bestmögliche aus der Situation zu machen", betont der ehemalige Außenminister. Besser hätte aus seiner Sicht die Erteilung von Visa für afghanische Ortskräfte praktiziert werden können. Also für Einheimische, die Deutschland in Afghanistan unterstützt haben und deshalb die Rache der Taliban befürchteten. "Möglicherweise hätte man bei einer schnelleren Einigung viele Menschen früher rausholen können", vermutet Maas.
Die Regierung glaubte der Fehlprognose des BND
Der SPD-Obmann im Untersuchungsausschuss, Jörg Nürnberger, hält diese Darstellung für nachvollziehbar. Auch die Erklärung dafür, warum die militärische Stärke der Taliban aufgrund entsprechender Informationen des Bundesnachrichtendienstes (BND) falsch bewertet wurde.
Diese fatale Fehleinschätzung habe es in allen am Afghanistan-Einsatz beteiligten Ressorts der Bundesregierung gegeben, sagt Nürnberger im DW-Gespräch. So sei auch das Entwicklungsministerium unter der Leitung des Christsozialen (CSU) Gerd Müller noch im August 2021 davon ausgegangen, länger vor Ort tätig bleiben zu können. Das bestätigte Müller bei seiner Befragung im Untersuchungsausschuss. Den überstürzten Abzug der internationalen Truppen bezeichnete er als "absolute Überraschung".
"Da hat sich die Bundeskanzlerin tatsächlich bemüht"
Die Rolle Angela Merkels beschreibt SPD-Obmann Nürnberger differenziert. Nach der Aktenlage sei nicht erkennbar, dass die damalige Regierungschefin eine koordinierende oder moderierende Rolle ausgeübt habe. Insgesamt sei von ihr wenig direkte Einflussnahme feststellbar gewesen. Nürnberger verweist aber auch darauf, dass sie sich für eine großzügige Evakuierung afghanischer Ortskräfte eingesetzt habe. "Da hat sich die Bundeskanzlerin tatsächlich bemüht."
Am 5. Dezember werden Jörg Nürnberger und die anderen Mitglieder des Afghanistan-Untersuchungsausschusses Gelegenheit haben, Merkel direkt zu befragen. Zur Vorbereitung könnten sie auch ein paar Seiten aus Merkels gerade publizierten Erinnerungen lesen. Demnach wurde sie am 13. August 2021, zwei Tage vor dem endgültigen Sieg der Taliban, von ihrer Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, telefonisch über die zugespitzte Lage rund um Kabul informiert.
Grünes Licht für die Evakuierung
In ihrem Buch beschreibt Merkel, wie sie auf die dramatische Lage reagierte: "Am folgenden Morgen hatte ich daraufhin Annegret Kramp-Karrenbauer in einer Telefonkonferenz mit den weiteren zuständigen Ministern grünes Licht für die detaillierte Vorbereitung einer Evakuierungsoperation gegeben." Die Bilder verzweifelter Menschen, die zu Tausenden vor den Taliban fliehen wollten, gingen um die Welt. Auch daran dürfte Merkel bei ihrem bevorstehenden Auftritt im Afghanistan-Untersuchungsausschuss erinnert werden.
Dieser Artikel wurde am 27.11.2024 veröffentlicht und nach der Befragung von Heiko Maas und Gerd Müller im Afghanistan-Untersuchungsausschuss am 28.11.2024 aktualisiert.