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Politik

Merkel: "Ich bin Ossi und stolz drauf!"

30. April 2019

Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt sich ganz im Osten des Landes den Fragen von Bürgern. Beim Bürgerdialog in Brandenburg wirkt sie alles andere als amtsmüde. Aus Schwedt Jens Thurau.

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Deutschland Bundeskanzlerin Merkel beim Bürgerdialog in Schwedt
Bild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

Der Taxifahrer, der vom Bahnhof in Schwedt zu den Uckermärkischen Bühnen fährt, hat noch nichts davon gehört, dass gleich die Bundeskanzlerin kommt. "Ach tatsächlich?" sagt er. Und dann: "Naja, lange ist sie ja nicht mehr da." Pause. "Aber wer kommt danach? Ich weiß es nicht. Eigentlich, finde ich, hat sie ganz schön viel gemacht, als Frau aus dem Osten und so. Muss man mal sagen." Das fasst die Lage jetzt, Ende April 2019, ganz gut zusammen.

An diesem Dienstag trifft sich Angela Merkel hier in Schwedt, der früheren Kern-Stadt der DDR-Öl-Industrie, 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, um sich im Theater den Fragen von Bürgern zu stellen. Fest steht: Den Vorsitz ihrer Partei, der CDU, hat sie schon abgegeben, bei der nächsten Bundestagswahl 2021 tritt sie nicht mehr an. Kommt eine Kanzlerin auf Abruf jetzt nach Schwedt?

Merkel amtsmüde? Keine Spur.

Zunächst einmal kommt sie aus Berlin mit dem Hubschrauber, der Zeitplan ist wie immer eng. Bereits am Mittwoch reist Merkel für einige Tage nach Afrika. Die rund 60 Teilnehmer des Bürgerdialogs wurden von einer Lokalzeitung, einem Sportverein und der örtlichen Wirtschaft ausgesucht. Und sie erleben eine Kanzlerin, die hier und heute gar nicht so wirkt, als hätte sie keinen Spaß mehr an ihrer Arbeit.

Deutschland Bundeskanzlerin Merkel beim Bürgerdialog in Schwedt Sandra Prause
Durfte Merkel eine Frage stellen: Altenpflegerin Sandra Prause aus SchwedtBild: DW/J. Thurau

Das mag daran liegen, dass es mal nicht um die große Weltpolitik mit all den Baustellen geht. Es geht um den ländlichen Raum, um Ostdeutschland. Es geht um fehlende Wohnungen, um die Gesundheitsversorgung, vor allem um die Pflege. Sandra Prause, Altenpflegerin aus Schwedt, will eine bessere Bezahlung. Die Kanzlerin verspricht Abhilfe. Ganz zufrieden ist Prause später nicht mit der Antwort, aber immerhin: "Ich hatte schon das Gefühl, dass sie sich interessiert."

Ossi aus Brandenburg

Überhaupt, Ostdeutschland: Immer wieder gab es Klagen, Merkel zeige ihren Landsleuten im Osten eher die kalte Schulter. Jetzt sagt sie: "Ich bin Ossi, ich bin Brandenburgerin, und da bin ich stolz drauf." Dann spricht sie über die vielen Windräder, die es hier in der Gegend gibt und die massive Kritik der Bürger daran. Aber die Energiewende brauche die Windräder und auch neue Leitungen: "Stellen Sie sich vor, wir hätten gelebt, als die Elektrizität erfunden wurde. Da hätte es keinen Strom gegeben vor lauter Bürgerprotest!"

Und was rät sie der Stadt Schwedt, soll sie noch auf die Ölindustrie setzen, auch wenn sie wesentlich kleiner ist als zu DDR-Zeiten? "Ich würde Ihnen raten: Setzen Sie auf die Speichertechnik, auf Forschung!" Also nicht aufs Öl. Klare Ansage.

Rücktrittsgerüchte

Zuletzt hat es einiges Rätselraten um die Kanzlerin gegeben. Merkwürdig unbeteiligt wirkte Merkel zuletzt, etwa bei den heftigen Debatten um den Klimaschutz in Deutschland. Oder als sie wenige Tage vor der entscheidenden Präsidentenwahl in der Ukraine den Amtsinhaber Poroschenko empfing, nicht aber dessen Herausforderer Selenskyj, obwohl der in allen Umfragen weit vorne lag und am Ende auch gewann. Im Europawahlkampf wird Merkel nur einen einzigen öffentlichen Auftritt absolvieren.

Deutschland CDU-Parteitag in Hamburg Kramp-Karrenbauer und Merkel
Hier steht Annegret Kramp-Karrenbauer schon ganz vorne, auf dem CDU-Parteitag Ende 2018.Bild: Reuters/K. Pfaffenbach

Und ihre Nachfolgerin an der Spitze der konservativen CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat wenige Tage nach der Europawahl Ende Mai zu einer Klausur des Parteivorstandes eingeladen. Schon gibt es Gerüchte, dann werde ein Zeitplan für den endgültigen Rückzug der Frau genannt,  die Deutschland seit 2005 regiert. Es sei möglich, dass Merkel sich noch vor der nächsten Bundestagswahl 2021 zurückzieht. Beide, Merkel und Kramp-Karrenbauer, dementieren das zwar. Aber das Gerücht bleibt.

Drei gute Taten und ein neues Problem

Hier in Schwedt steht Merkel 90 Minuten lang am Stehpult, von Erschöpfung keine Spur. Ihr lakonischer Humor blitzt durch: "Ja, ja, so ist Politik: Sie machen drei gute Taten, schon kommt als Viertes eine neues Problem."

Deutschland Bundeskanzlerin Merkel beim Bürgerdialog in Schwedt
Gut gelaunt wirkt Angela Merkel - genau wie die anderen DiskussionsteilnehmerBild: picture-alliance/dpa/M. Skolimowska

Nur ganz am Ende, da geht es dann doch wieder einmal um die Flüchtlinge. War es nicht doch ein Fehler, will ein Bürger wissen, so viele Asylsuchende ins Land zu lassen, das habe hier in der Region der CDU viel Sympathie gekostet. Merkels Antwort: "Die Menschen reinzulassen, war kein Fehler, aber dass wir uns vorher zu wenig um die Konfliktregionen, aus denen sie kamen, gekümmert haben, das war falsch!" Um die Fluchtursachen kann sich Merkel in den nächsten Tagen auf ihrer Afrika-Reise kümmern. Die Flüchtlingspolitik ist Merkels Vermächtnis, das ist klar. Wie lange sie noch Kanzlerin sein wird, das ist nach wie vor unklar.