1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Bolivien in der Polarisierungs-Falle

DW Sendung | A Fondo 12.11.20 - Isaac Risco
Isaac Risco
24. März 2021

Die Verhaftung der früheren Interimspräsidentin Jeanine Áñez ist ein politischer Racheakt. Denn viele Umstände des Machtwechsels im Jahr 2019 sprechen gegen die These eines Staatsstreichs, meint Isaac Risco.

https://p.dw.com/p/3r0OE
Demonstranten in der Dunkelheit mit Mundschutz in den Landesfarben von Bolivien, einer großen bolivianischen Flagge (rot-gelb-grün) und einem Plakat #NoFueGolpe #Fue Fraude ("Es war kein Putsch, es war Betrug")
"Es war kein Putsch, es war Betrug" - Anhänger von ex-Übergangspräsidentin Áñez protestieren gegen ihre FestnahmeBild: Juan Karita/AP Photo/picture alliance

Mit der Wahl eines neuen Staatschefs im vergangenen Oktober schien sich Bolivien wieder zu stabilisieren. Der klare Sieg des Linken Luis Arce hatte das Land wieder mit einer legitimen Regierung ausgestattet nach der schweren politischen Krise, die ein Jahr zuvor begonnen hatte. Im November 2019 war der Mentor von Arce, Ex-Präsident Evo Morales, nach heftigen Protesten gegen seine Wiederwahl und einen angeblichen Wahlbetrug aus dem Amt gejagt worden. Der lange unangefochtene Morales musste nach 13 Jahren an der Macht sogar ins Exil fliehen.

Der Übergangsregierung unter Führung der Konservativen Jeanine Áñez, die damals die Amtsgeschäfte übernahm, wurde von vielen Bolivianern wiederum die Legitimität abgesprochen. Vor allem, weil Morales zum Schluss auch vom Militär zum Rücktritt gedrängt worden war. Im Land war vielerorts von einem Staatsstreich die Rede.

Keine Tradition einer unabhängigen Justiz

Mit Arces Wahlsieg trat diese Debatte in den Hintergrund - hatten nicht die Wähler gerade für klare Verhältnisse gesorgt? Auch der neue Präsident und frühere Wirtschaftsminister unter Morales schien eher nach vorne blicken zu wollen. Der Konflikt ist aber wieder hoch aktuell geworden, nachdem Boliviens Justiz vor einigen Tagen Áñez und einige ihrer damaligen Mitstreiter in Untersuchungshaft nehmen ließ. Ihnen wird Verschwörung und Terrorismus vorgeworfen.

DW Sendung | A Fondo 12.11.20 - Isaac Risco
DW-Redakteur Isaac Risco war mehrere Jahre dpa-Korrespondent in SüdamerikaBild: DW

Es spricht einiges für die Annahme, dass es hier eher um einen politischen Racheakt geht. In ihrer turbulenten einjährigen Amtszeit ließ Áñez politische Gegner verfolgen, in ihren ersten Wochen im Amt gab es mehrere Todesopfer bei der Niederschlagung von Protesten von Morales-Anhängern. Die Staatsanwaltschaft erhob später Anklage gegen den damals im argentinischen Exil verweilenden Morales - dem Ex-Präsidenten wurden ähnliche Vergehen wie heute Áñez vorgeworfen. Diese Anschuldigungen wurden jedoch nach Arces Amtsantritt flugs fallen gelassen. Die Tradition einer unabhängigen Justiz gab es in Bolivien noch nie.

Zusätzlich zu den Rachegelüsten der Regierungspartei MAS (Bewegung zum Sozialismus) dürfte aber auch das Empfinden von Morales selbst eine wichtige Rolle gespielt haben. Denn für den Ex-Staatschef geht es um sein Vermächtnis. Zwei Narrative konkurrieren um die Deutungshoheit über das Ende seiner in vielen Aspekten durchaus erfolgreichen Präsidentschaft: Versuchte der zunehmend autoritär agierende Morales zum Schluss durch Wahlbetrug an der Macht zu bleiben? Oder war der erste indigene Präsident Boliviens am Ende Opfer eines Staatstreichs, weil er sich mit den Eliten des Landes angelegt hatte?

Wahlbetrug oder Putsch?

Morales kam 2006 an die Macht, er bescherte seinem Land politische Stabilität und dank Rohstoff-Boom auch ein robustes Wirtschaftswachstum sowie soziale Errungenschaften. 2016 verlor er aber knapp eine Volksabstimmung, die ihm eine vierte Amtszeit in Folge ermöglichen sollte - das Volk schien sich nach einer neuen Führung zu sehnen. Das Morales gewogene Verfassungsgericht korrigierte aber 2107 den Volksentscheid und urteilte, dass der Staatschef doch noch einmal kandidieren durfte. Die Präsidentenwahl von 2019 stand so von vornherein vor Legitimitätsproblemen. Auch am Wahltag selbst gab es Betrugsvorwürfe. Morales wurde knapp zum Sieger erklärt, erst nach mehrwöchigen Protesten und dem Eingriff des Militärs gab er auf.

Also Wahlbetrug oder Putsch? Die Wirklichkeit ist oft komplexer und chaotischer, sie lässt sich nicht immer so einfach in Schwarz-Weiß-Bildern erklären. Wahlbeobachter hatten zahlreiche Unregelmäßigkeiten festgestellt, auch wenn sie später vermieden, von einem Wahlbetrug zu sprechen. Als sicher kann gelten, dass viele Bolivianer aufgrund der Vorgeschichte nicht bereit waren, Morales als legitimen Wahlsieger anzuerkennen.

Diejenigen, die laut "Putsch" rufen, verkennen, welche Rolle Morales bei den Vorgängen spielte, die zur Krise geführt haben. Und die Tatsache, dass die Áñez-Regierung später politische Gegner kalt gestellt hat, macht den Machtwechsel nicht rückwirkend zu einem Putsch.

Der Präsident von Bolivien, Luis Arce, vor einer Landesflagge | TV-Rede zur Corona-Krise
Mit deutlicher Mehrheit gewählt: Boliviens Präsident Luis ArceBild: UNTV/AP/picture alliance

Rückfall in den alten Grabenkampf

Luis Arces Wahl bot die Chance, diesen Konflikt zu überwinden. Sein deutlicher Sieg mit über 55 Prozent der Stimmen vor fünf Monaten ließ keine Zweifel an seiner Legitimität. Die Wahlergebnisse kann man so interpretieren: Die Mehrheit der Bolivianer vertraut weiterhin der linken Politik der MAS, sie will bloß keinen Evo Morales, der ewig an der Macht klebt. Jetzt aber fällt das Land - mitten in einer schweren Wirtschaftskrise - in den alten polarisierenden Grabenkampf zurück. Das lässt nichts Gutes für die nächste Zukunft erahnen.