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Von einem Gespenst namens Inflation

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Henrik Böhme
2. Oktober 2021

Das Leben wird deutlich teurer. Das hat viele Ursachen. Die Deutschen aber fürchten die Geldentwertung wie kaum ein anderes Volk. Für Panik besteht jedoch (noch) kein Grund, meint Henrik Böhme.

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Mehrere Bündel von Euro-Noten in einem Umschlag
Müssen die Deutschen bald mit dicken Geldbündeln zum Einkaufen gehen - so wie aktuell die Venezolaner?Bild: imago images/teamwork/A. Duwentäster

Wer wissen will, wie das mit der Geldentwertung funktioniert, der schaue nach Venezuela. Dort ist Geld praktisch nichts mehr wert, für einen Euro musste man bis Donnerstag 4,8 Millionen Bolivar bezahlen. Das lässt ahnen, was die Venezolaner für ein Brot hinlegen müssen. Die Inflationsrate dürfte nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds aufs Jahr gerechnet bei 5500 Prozent liegen. Da hilft es auch nicht, dass jetzt sechs Nullen gestrichen werden und nun ein Bolivar Digital zum Zahlungsmittel wird. 

Was sind dagegen schon die läppischen 4,1 Prozent, um die die Preise in Deutschland im Monatsvergleich gestiegen sind? Immerhin der höchste Anstieg seit 28 Jahren. Das reicht hierzulande für die ganz dicken Schlagzeilen und geradezu existenzielle Fragen wie: Ist mein Geld noch sicher? Kann ich mir mein derzeitiges Leben noch leisten, mein Haus abbezahlen? Fast vergessene Wirtschafts-Vokabeln wie "importierte Inflation", "gefährliche Lohn-Preis-Spirale" und gar "Stagflation" (stagnierende Wirtschaft bei gleichzeitiger Inflation) tauchen plötzlich aus der Versenkung wieder auf. Ein totgeglaubtes Phänomen ist zurück.

Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion
Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion

Die Angst ums Ersparte

Der Reihe nach: Die Angst der Deutschen vor einer Entwertung ihres Geld sitzt tief in den Genen - nach den bitteren Erfahrungen von 1923 (in Folge des Ersten Weltkriegs), 1948 (Währungsreform nach dem Zweiten Weltkrieg) und 1990 (zumindest für viele Ostdeutsche, die nicht ihr komplettes Guthaben in D-Mark umtauschen konnten). Hinzu kam im Jahr 2002 der Verlust der ach so geliebten und starken D-Mark durch den Euro, den man auch mit Ländern teilen muss, die ein vergleichsweise entspanntes Verhältnis zu Haushaltsdisziplin haben wie Italien oder Griechenland.

Die Ursachen für die aktuell hohe Teuerung liegen auf der Hand, die Liste ist lang und hat vor allem mit der Corona-Pandemie zu tun: Da ist zum einen die extrem niedrige Inflationsrate im vergangenen Jahr, die Rückkehr zum bisherigen Mehrwertsteuersatz (er war wegen Corona gesenkt worden), ein dramatisch großer Nachfrageschub auf der ganzen Welt, um wegen Corona ausgefallene Investitionen nachzuholen. Das weltweite Wachstum hat Öl- und Gaspreise extrem ansteigen lassen, in Deutschland verteuert die neue CO2-Abgabe die Preise für Energie zusätzlich. Als wäre das nicht genug, verknappen gestörte Lieferketten das Angebot und sind somit ebenfalls ein Preistreiber.

Höhere Preise treffen das ganze System

Teurer - und zwar drastisch - wird somit auch alles, was Deutschland importieren muss. Erdgas im Jahresvergleich um 178 Prozent, Eisenerz plus 97 Prozent, Kaffee um ein Drittel. Das verbirgt sich hinter der "importierten Inflation". Unternehmen sind gezwungen, die höheren Preise an ihre Abnehmer weiterzugeben, wollen sie nicht selbst Verluste erleiden.

Im Jahr 2018 kostete eine Rolle Toilettenpapier in Venezuela 2,6 Millionen Bolivar.
Im Jahr 2018 kostete eine Rolle Toilettenpapier in Venezuela 2,6 Millionen Bolivar. Bild: Reuters/C. G. Rawlins

So frisst sich die Inflation immer weiter in das Wirtschaftssystem - und Entspannung ist nicht in Sicht, auch wenn die Währungshüter und -hüterinnen der Europäischen Zentralbank sich nach Kräften bemühen, von einem "temporären Phänomen" zu sprechen. Aber es ist ja beispielsweise absehbar, dass der Wandel hin zu einer klimaneutralen Volkswirtschaft zunächst vor allem eines ist: ein gigantisch teures Projekt. Für eine Entlastung an der Preisfront wird das jedenfalls nicht sorgen. Auch nicht die von vielen beschworene Neuordnung der globalen Lieferketten. Im Gegenteil: Auch das wird letztlich zu steigenden Preisen führen, wenn der Zulieferer nicht mehr der billigste, sondern der zuverlässigste ist.

Eine weiterer Grund ist freilich auch das viele Geld, dass die Zentralbanken zur Krisenbekämpfung in den vergangenen Jahren in die Märkte gepumpt haben. Das hat natürlich auch geholfen, kriselnde Volkswirtschaften am Leben zu halten. Jetzt aber steht die EZB vor einem Dilemma. Hebt sie die Zinsen an - was sie zur Inflationsbekämpfung irgendwann tun müsste - wird es für die Krisenländer deutlich teurer, ihren Schuldenberg abzubauen. Oder lassen die Währungshüter die Inflation gar absichtlich ansteigen, um die Schuldenberge zu entwerten? 

Was ist zu tun?

Gefragt sind jetzt die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt. Es ist der Job der Zentralbanken, eben diesen Zeitpunkt zu finden - und sei es zunächst nur durch Worte. (Wir erinnern uns an Ex-EZB-Chef Draghis Whatever it takes!). Aber auch die Politik ist gefordert Maß zu halten mit ihrem Ruf nach einem höheren Mindestlohn. Das würde das gesamte Lohngefüge nach oben treiben und eine gefürchtete Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen, die sich nur schwer aufhalten lässt.

Es bleibt kompliziert. Die Märkte haben sich mittlerweile so sehr an das süße Gift des billigen Geldes gewöhnt, dass ein Entzug schwierig werden dürfte. Die Menschen hingegen müssen den Währungshütern vertrauen können, denn auch eine gefühlte Inflation kann eine tatsächliche Inflation erzeugen. Noch also gibt es keinen Grund zur Panik. Zu besonderer Wachsamkeit aber schon.

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Henrik Böhme Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Auto- und Finanzbranche@Henrik58