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Politik

Streit ist notwendig für jede Demokratie

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Ines Pohl
1. November 2020

In den Vereinigten Staaten ist gerade zu erleben, was passiert, wenn eine Gesellschaft keine Räume mehr hat, um unterschiedliche politische Positionen zu diskutieren: Sie zerfrisst sich von innen, meint Ines Pohl.

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USA I TV-Duell zwischen Donald Trump und Joe Biden
Donald Trump und Joe Biden bei ihrem zweiten TV-Duell am 22. OktoberBild: Morry Gash/Reuters

Die Vereinigten Staaten waren schon immer ein Land der Gegensätze. Eine polarisierte Nation. Es gibt nur zwei Parteien, die eine wirkliche Rolle spielen. Regierungen müssen keine Kompromisse suchen, um eine Regierungskoalition bilden zu können, entweder haben sie eine Mehrheit. Oder sie haben die Wahl verloren.

Dieses Lagerdenken spiegelt sich seit den Unabhängigkeitskriegen auch in den Medien. Schon die ersten regelmäßig erscheinenden Zeitungen im 18. Jahrhundert bezogen bei wichtigen politischen Entscheidungen klar Position. Wie in vielen anderen Ländern auch sympathisieren Publikationen und private TV-Sender mit gewissen politischen Richtungen. Entsprechend wird der Medienkonsum gewählt, man schaltet den Sender ein, klickt die Seite an oder schlägt die Zeitungsseite auf, bei der man sich politisch am ehesten Zuhause fühlt.

Medienhäuser als politische Akteure

Fundamental anders sind nach fast vier Jahren Donald Trump zwei Dinge:

1. Die amerikanischen Medienhäuser haben es aufgegeben, nach einer objektiven politischen Berichterstattung zu streben und sind zu politischen Akteuren mutiert.

2. Die permanenten Behauptungen Trumps, Medienhäuser seien nichts als Lügenpresse, zeigen Wirkung: Noch nie war die Glaubwürdigkeit von Journalimus so gering. Und beide Punkte haben durchaus miteinander zu tun. Die Sozialen Medien wirken darüber hinaus als Verstärker.

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Ines Pohl leitet das DW-Studio in WashingtonBild: DW/P. Böll

In den Vereinigten Staaten gibt es kaum mehr öffentliche Räume, um kontrovers über politische Konzepte und Lösungsvorschläge zu diskutieren. Dieser Wahlkampf zeigt uns auf brutalste Weise, welche Auswirkungen das hat: Immer mehr Menschen vertrauen allein ihren eigenen, kleinen Social Media-Blasen, um mit Informationen versorgt zu werden. Mit fatalen Folgen: Verschwörungstheoretikern und Demokratiefeinden sind Tür und Tor geöffnet. Die Medien haben ihre Rolle als glaubwürdiges Korrektiv durch ihre extreme Einseitigkeit selbst verspielt. Es sind die Algorithmen, die mit der Belohnung der lautesten und schrillsten und polarisierendsten Headline die Diskurse beider politischer Lager fest im Griff haben.

Fakten, wissenschaftliche Erkenntnisse, haben kaum mehr eine Chance in die Blasen durchzudringen, die durch Donald Trumps Behauptungen infiltriert sind. Ich habe es in den vergangenen Wochen immer wieder selbst erlebt, mit welcher Überzeugungskraft Durchschnittsamerikaner behaupten, Hillary Clinton halte kleine Kinder im Keller versteckt und COVID-19 sei nichts anderes als der Versuch einer ominösen Gruppe, nicht weniger als die Weltherrschaft zu übernehmen.

Gefahr des Auseinanderbrechens einer Nation

Auf der anderen politischen Seite stehen nicht selten selbstgefällige, gut situierte Städter, die keinerlei Bereitschaft haben, sich in die Gedankenwelt von Familien zu begeben, die seit Generationen von Arbeitsplätzen in Fabriken abhängig sind, die immer weniger werden. Oder vom Kohleabbau, der keine Zukunft mehr hat.

Das macht Angst. Und es sollte Angst machen. Die USA sind aus vielen Gründen besonders anfällig, auseinander zu brechen. Das hat mit dem Bildungssystem zu tun, aber auch mit der demographischen Entwicklung. Die Tatsache, dass in zwei Jahrzehnten die weiße Dominanz - zumindest rein zahlenmäßig - endgültig vorbei sein wird, verunsichert - bringt den sicher geglaubten Boden ins Wanken und zeigt, wie tief rassistisch weite Teile dieses Landes weiterhin sind.

Die Menschen in den USA haben verlernt, über politische Argumente zu streiten und ziehen sich immer weiter in ihre sozialen Medien Blasen zurück. Aber diese Gefahr ist beileibe nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt.

Fakten und das Bemühen um Objektivität

Demokratien leben vom Diskurs, vom Streit um den besten Weg. Sie können aber nur unter bestimmten Voraussetzungen existieren. Eine davon ist, dass Fakten eine Rolle spielen. Man kann nicht mehr diskutieren, wenn man mit der Antwort auf ein unliebsames Argument "Das sind Fake News!" immer durchkommt.

Aber kann man diese Entwicklung überhaupt noch aufhalten? Wenn überhaupt, dann nur durch eine klare Schwerpunktsetzung in den Schulen. Kinder müssen lernen, mit Sozialen Medien umzugehen, müssen erkennen, was Propaganda ist, was Aktivismus. Welche Webseiten glaubwürdig sind. Und welche Gruppen eben nicht.

Und hier sind auch die Medienschaffenden gefragt. Wir müssen nach Objektivität streben, um Glaubwürdigkeit zurück zu gewinnen und weiterhin relevante Akteure in einer Demokratie zu bleiben.

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Ines Pohl Büroleiterin DW Studio Washington@inespohl