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Politik

Tod eines Musterknaben

Rosalia Romaniec | DW Mitarbeiterin | Leiterin Current Politics
Rosalia Romaniec
27. Januar 2021

Seit zwölf Monaten wütet die Pandemie in Deutschland - und kein Ende in Sicht. Die Bundesrepublik gilt längst nicht mehr als Vorbild. Und das Schlimmste könnte noch bevorstehen, meint Rosalia Romaniec.

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Neun Särge stehen eng aneinander in einem Lagerraum des Krematoriums in der sächsischen Kreisstadt Döbeln
Auch in Deutschland wird inzwischen in manchen Krematorien der Platz für die Särge knappBild: Christina Küfner/DW

Wenn in diesen Tagen eine vorläufige Corona-Bilanz in Deutschland gezogen wird, steht eine Frage ganz oben: Waren die inzwischen mehr als 50.000 Pandemie-Toten im Land wirklich unvermeidbar? Die meisten sind längst anderer Ansicht. Aber im Nachhinein ist man natürlich immer klüger.

"Mehr und früher" hätte man agieren müssen - diese selbstkritischen Worte hört man bei Angela Merkel und anderen politischen Verantwortlichen immer öfter. Angesichts der jüngsten Zahlen kann auch niemand bestreiten, dass etwas schiefgegangen ist. Die Statistik ist erdrückend: Fast neun Monate lang blieb die mit COVID-19 verbundene Todeszahl unter 10.000. Binnen zwei Monaten hat sie sich nunmehr verfünffacht.

Verhängnisvolle Sicherheit

Ja, Deutschland hat Corona im Herbst unterschätzt. Nachdem zu Beginn der Pandemie in weiser Voraussicht gehandelt wurde und Deutschland zurecht international als Vorbild galt, dachten viele hierzulande: "Wir können es besser als andere." Das war übermütig, um nicht zu sagen arrogant!

Deutsche Welle Rosalia Romaniec Portrait
DW-Redakteurin Rosalia RomaniecBild: DW/B. Geilert

Denn das "besser" war vor allem einem geschuldet: dem wissenschaftlichen Denken der deutschen Regierungschefin. Weil Angela Merkel weniger auf ihre politischen als auf ihre wissenschaftlichen Berater gehört hatte, ging Deutschland im März früh genug in einen Lockdown. Das verhinderte viele Infektionen und Todesfälle. Die Republik agierte zu Beginn der Pandemie trotz aller Fehler und der anfangs fehlenden Masken umsichtig und pragmatisch. Prävention war die Prämisse. "Vorsicht ist besser als Nachsicht" - diese Strategie funktionierte. Größtenteils zumindest.

Denn zur Wahrheit gehört auch, dass es unverzeihliche Folgeschäden gab: In Pflegeheimen etwa, wo die erbarmungslose Umsetzung der Corona-Regeln zu menschlichen Dramen führte. Während monatelanger Besuchsverbote starben viele Alte in absoluter Einsamkeit. Ihre Angehörigen durften sich nicht verabschieden, sie werden diesen Schmerz und Groll ihr Leben lang mit sich herumtragen. Ein Fehler, der massiv Vertrauen in den Staat zerstörte. Und im Kampf gegen die Pandemie doch nur wenig nützte.

Den höchsten Preis zahlen die Schwächsten

Die Lage in Pflegeheimen bleibt ganz grundsätzlich ein Skandal. Der Großteil aller Corona-Toten - in einzelnen Städten und Regionen bis zu 86 Prozent - lebte dort, wo alte Menschen betreut und versorgt werden. Warum diese Zahl so hoch ist und warum so wenige Alte nach festgestellter Infektion in Krankenhäuser gebracht werden - die Unklarheit darüber ist ein unhaltbarer Zustand.

Deutschland Angela Merkel verkündet neue Corona-Beschlüsse
Die Politik von Angela Merkel galt lange als vorbildlich im Kampf gegen die PandemieBild: Hannibal Hanschke/REUTERS

Diese Krise wirkt wie ein Brennglas: Was in den vergangenen Jahren von der Politik verschlafen wurde, rächt sich jetzt. Paradebeispiel: die Digitalisierung. Hätte die Regierung sie früher ernst genommen, könnten viel mehr Menschen produktiv im Homeoffice arbeiten und müssten keine Ansteckung auf dem Weg ins Büro riskieren. Das gilt sowohl für die Wirtschaft als auch ganz besonders für den Riesenapparat der öffentlichen Verwaltung. Ebenso wäre die Situation von Schülern und Lehrern, denen technische Ausstattung, notwendige Internet-Bandbreiten und digitale Unterrichtskonzepte fehlen, weit weniger chaotisch. Von flächendeckendem, geregeltem Unterricht ist Deutschland in diesen Wochen jedenfalls weit entfernt.

Das Prinzip Hoffnung funktioniert nicht

Noch ist es zu früh, um eine Gesamtbilanz zu ziehen. Wir stecken weiter mittendrin in der Krise. Kritik an den Zuständen und Schuldzuweisungen bringen aktuell wenig. Die Pandemie und ihre Folgen werden Politik und Gesellschaft aber zwingen, Lehren zu ziehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis, dass halbe Lösungen in Krisen nicht funktionieren. Ein "Lockdown Light" bringt ebenso wenig, wie eine Corona-Verordnung, die vor Gericht nicht standhält.

Niemand kann heute sagen, wie lange uns diese Pandemie noch in Schach halten wird. Ebenso wissen wir nicht, wie stark die neuen Virus-Mutanten in Deutschland bereits wüten und was das für uns bedeutet. Aber eines ist inzwischen klar: Das Prinzip Hoffnung funktioniert bei der Bewältigung einer solchen Lage nicht. Wer Krisen meistern will, muss von Anfang an vom Schlimmsten ausgehen. Sonst wird uns das Schlimmste immer einholen.

Rosalia Romaniec | DW Mitarbeiterin | Leiterin Current Politics
Rosalia Romaniec Leiterin Current Politics / Hauptstadtstudio News and Current Affairs@RosaliaRomaniec