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Politik

Gerechtigkeit als Weg aus dem Desaster

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Maissun Melhem
15. März 2021

Zehn Jahre nachdem die Syrer es wagten, von Würde und Freiheit zu träumen, ist das Land unfassbar verwüstet. Es gibt keinen Weg zurück und nur Gerechtigkeit kann der Weg in die Zukunft sein, meint Maissun Melhem.

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Drei Kinder sitzen in einer völlig zerstörten Straße in Aleppo an einem kleinen provisorischen Ofen und lesen in gedruckten Heften mit vielen Bildern
Kinder in Aleppo lesen UNICEF-Broschüren über die Gefahren von Blindgängern und Hinterlassenschaften des KriegesBild: picture alliance/AP Photo/K.Al-Issa

Als im Februar 2020 in Los Angeles die Oscars verliehen wurden, hatten viele Syrer Grund zur Freude. Zwei Filme aus Syrien waren für den besten Dokumentarfilm nominiert worden: Zum einen "The Cave", über ein unterirdisches Krankenhaus in Ost-Ghuta, das von einem Team von Ärztinnen betrieben wird, die Opfer der Luftangriffe der Regierung auf diesen Vorort der Hauptstadt Damaskus behandeln. Zum anderen "For Sama", der von den mit dem Emmy ausgezeichneten Filmemachern Waad al-Kateab und Edward Watts über fünf Jahre hinweg in der belagerten Stadt Aleppo gedreht wurde.

Al-Kateab, die gemeinsam mit ihrer Tochter Sama, der der Film gewidmet ist, zur Gala nach Hollywood kam, machte Schlagzeilen wegen ihres Kleides. Das trug die arabische Aufschrift: "Wir haben es gewagt zu träumen, und wir bereuen nicht, auf unsere Würde bestanden zu haben." Dieser Satz ist das zentrale Mantra der Syrer, die gerade des zehnten Jahrestags ihrer Revolution gegen eine der brutalsten Diktaturen unserer Zeit gedenken. Doch wenn ich mir die eindringlichen Bilder der vergangenen zehn Jahre vor Augen führe, frage ich mich: Bereuen wir wirklich nichts?

Ein syrischer Sommer der Liebe

Der Sommer 2011 war voller Hoffnung. Der Arabische Frühling schien Früchte zu tragen. Autoritäre Regime brachen nach Jahrzehnten unter dem Druck friedlicher Demonstrationen auf den Straßen und in den Sozialen Medien zusammen. Die Bewegung inspirierte auch die Schüler in der südsyrischen Stadt Daraa, die auf eine Wand ihrer Schule schrieben: "Jetzt bist Du dran, Doktor!" Das bezog sich auf den studierten Augenarzt Bashar al-Assad, der die Präsidentschaft in Syrien von seinem Vater Hafiz geerbt hat.

Die syrische Filmregisseurin Waad Al-Kateab mit weißem Abendkleid verziert mit arabischen Schriftzeichen vor der Oscar-Statue im Eingangsbereich des Dolby Theatres in Los Angeles
Die syrische Regisseurin Waad Al-Kateab bei der Gala zur Oscar-Verleihung 2020 mit lyrischer Botschaft auf ihrem KleidBild: John Locher/AP Photo/picture alliance

Wer Syrien kennt, war kaum überrascht, dass die Schulkinder aus Daraa verhaftet und gefoltert wurden. Doch schnell breitete sich eine Welle von Protesten im ganzen Land und sogar unter den in der Diaspora lebenden Syrern aus. Die Demonstranten des Sommers 2011 hielten Blumen in ihren Händen, während sie für Freiheit und Würde skandierten. Es war eine Bewegung jenseits der reinen Politik. Sie sprach soziale Fragen an und inspirierte neue Formen der Kunst und viele Liebesgeschichten. Sie hatte die Vision von Akzeptanz und Inklusion aller. Es war eine Art syrischer Sommer der Liebe.

Mein Sohn ist ein Produkt dieses syrischen Sommers der Liebe. Seine Geburt lenkte mich erfolgreich von der Gewalt ab, die in meinem Land inzwischen Dimensionen angenommen hatte, die ich nicht mehr begreifen konnte. Die Gräueltaten, denen die syrische Zivilbevölkerung ausgesetzt war, wurden immer schrecklicher: vom Beschuss friedlicher Demonstranten über das Bombardement von öffentlichen Versammlungen mit Fassbomben und Scud-Raketen, bis hin zum Einsatz chemischer Waffen gegen einen ganzen Vorort von Damaskus, bei dem mehr als 1.300 Zivilisten starben.

Wenn Fundamentalisten zur "Opposition" werden

Die friedlichen Demonstranten für Freiheit von 2011 wurden weniger. Viele Syrer mussten sich entscheiden, ob sie sich dem alten Regime ergeben oder sich den militanten Rebellengruppen anschließen wollten, die immer weiter in den islamistischen Fundamentalismus abdrifteten. Bis die amorphe Ansammlung salafistischer Milizen von der internationalen Gemeinschaft plötzlich als "die Opposition" in Syrien wahrgenommen wurde.

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DW-Redakteurin Maissun Melhem stammt aus Syrien

Seit 2010 lebe ich in Berlin, arbeite hier als Journalistin und kümmere mich um mein Kind. Jahr um Jahr vergeht und das Leid setzt sich fort - selbst für jene Syrer, denen die Flucht aus dem Inferno in eines der Nachbarländer gelungen ist. Sie stehen vor dem Nichts und führen einen täglichen Überlebenskampf. Denn in den meisten ihrer Gastländer gibt es keinerlei soziale Sicherheit für Nicht-Staatsbürger. Einige sind wahnsinnig geworden, andere haben stillschweigend unsere Welt verlassen oder wurden einfach vom Mittelmeer verschluckt. Einige haben es nach Europa oder Nordamerika geschafft. Von diesen haben einige beschlossen, den Kampf gegen das autoritäre Regime in Damaskus fortzusetzen, indem sie Assad und seine Leute strafrechtlich verfolgen und sie für die von ihnen begangenen Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.

Surreale Nachrichten

Ich gehöre zu den glücklichen Syrern, die ein Leben abseits des Krieges führen können. Und dennoch lassen mich die Ereignisse der vergangenen zehn Jahre nicht los. Zehn Jahre nach dem utopischen Traum von Freiheit und Würde könnten die Nachrichten aus und über Syrien nicht surrealer sein: Eine Gruppe vertriebener Syrer hat eine Fußballmannschaft für Amputierte gegründet, die im Krieg Teile ihres Körpers verloren haben. Syrische Flüchtlinge in Lagern überall zeigen ihren Selbstbehauptungswillen, indem sie nach jedem Sturm ihre Zelte selbst flicken und wieder aufbauen. Der syrische Präsident fordert von den Fernsehsendern im Land, alle Kochshows abzusagen, um das Publikum, das sich kaum noch Brot leisten kann, nicht zu verärgern.

Wenn ich in meinem sicheren Zuhause in Berlin sitze und von all dem lese - oder von syrischen Müttern, die fast verhungern, um ihren Kindern das Überleben zu sichern - dann frage ich mich: Habe ich überhaupt das Recht, die Revolution zu bedauern oder eben nicht zu bedauern? Oder war nicht die Aufschrift auf dem Kleid von Waad al-Kateab bei der Oscar-Verleihung auch nur eine moderne Form des legendären "Dann sollen sie doch Kuchen essen"-Ratschlages von Marie Antoinette? Ich weiß es nicht.

Was ich weiß: Syrien ist vollständig zerstört und es gibt keinen Weg zurück ins Jahr 2011. Allein Versöhnung kann der Ausweg sein und nur eine vollständige juristische Aufarbeitung im Land selbst kann den Syrern helfen, sich miteinander und mit den vergangenen zehn Jahren mit dem Ziel einer Heilung zu versöhnen. Das Bemühen der Syrer in Europa und Nordamerika, Assad, seine Familie und deren enges Netzwerk von Verbündeten für ihre Verbrechen überall auf der Welt zur Rechenschaft zu ziehen, ist der erste Schritt.

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Maissun Melhem Leitende Redakteurin und Moderatorin@MaissunMelhem