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Politik

Die neuen Zensoren lauern überall

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
27. Juni 2021

Das freie, aufklärerische Denken ist derzeit vielerorts bedroht. Auch in Demokratien greift Zensur um sich - durch Regierungen und Anhänger der Identitätspolitik, meint Martin Muno.

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Weltspiegel 11.02.2021 | Corona | USA Chicago | Schülerinnen
Ihre Geschichte wird zum Spielball der Bildungspolitik in den USA: People of ColourBild: Shafkat Anowar/AP Photo/picture alliance

Der Philosoph Immanuel Kant bezeichnete Aufklärung als den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Diese "Unmündigkeit" war für Kant das Unvermögen, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen. Und mit "selbstverschuldet" meinte er Menschen, bei denen nicht der Mangel an Verstand die Ursache hierfür ist, sondern fehlender Mut. Daher wurde sein Appell, "habe Mut, Dich Deines Verstandes zu bedienen", zum Slogan der Aufklärung.

Jahrzehntelang lernten Schüler und Studentinnen diesen Satz mit gelangweilter Selbstverständlichkeit. Na klar, in unserer aufgeklärten Welt ist es notwendig, selbst zu denken. Was soll denn daran Mut erfordern - sofern man in demokratischen Gesellschaften lebt und nicht in Belarus, Myanmar oder Nordkorea?

Bedrohung von entgegengesetzten Polen

Doch das freie Denken ist bedroht - auch in Demokratien. Und zwar von zwei entgegengesetzten Polen: Zum einen von Regierungen und Behörden, zum anderen von Anhängern einer falsch verstandenen Identitätspolitik. Immer geht es dabei um political correctness oder um "Mikroaggressionen", also Worte oder Taten, die bei anderen negative Gefühle auslösen können.

In den USA etwa wurden in mehreren republikanisch regierten Bundesstaaten Gesetze erlassen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte des Landes verhindern sollen. Blaupause ist ein Gesetz in Oklahoma, das es den Lehrkräften verbietet, im Unterricht Inhalte zu vermitteln, die Schülerinnen und Schülern "Unbehagen, Schuldgefühle, Angst oder irgendeine andere Form von psychischer Belastung" bereiten. Der Gouverneur von Idaho, Brad Little, sieht durch die Behandlung von Rassismus in Unterricht die Einheit der Nation und das Wohlergehen der Bürger gefährdet.

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DW-Redakteur Martin Muno

Die Sklaverei, der Massenmord an den amerikanischen Ureinwohnern, die Gräueltaten des Ku-Klux-Klans oder der Fall des von einem weißen Polizisten getöteten Afroamerikaners George Floyd können somit aus den Lehrplänen gestrichen werden. Die Absicht dahinter ist, den allgegenwärtigen Rassismus zu verleugnen, indem kollektiv darüber geschwiegen wird.

"Kulturelle Aneignung" - ein neues Tabu

Die andere Seite der neuen Zensur-Bemühungen wird nicht von Regierungsbehörden exekutiert, sondern wird gerne unter dem Schlagwort "Identitätspolitik" in den Sozialen Medien und dann in dem Facebook und Co. eigenen Erregungsmaximum ausgetragen.

So wurde vor einigen Jahren in Kanada ein Yogakurs aus dem Sportprogramm des Ottawa College gestrichen, weil Studierende Yoga als Akt einer kulturellen Aneignung und damit als übergriffig interpretierten. In mehreren US-amerikanischen Unis gibt es aus demselben Grund keine asiatischen Speisen mehr in der Mensa. Und die Liste der Musiker*innen, die öffentlich gebrandmarkt wurden, weil ihre Frisur eine verbotene kulturelle Aneignung darstelle, reicht von Beyonce über Justin Bieber bis zu Kim Kardashian – als ob nicht gerade in der Popkultur die Adaption quasi zum genetischen Code gehört.

Als Amanda Gorman mit ihrem zu Joe Bidens Amtseinführung vorgetragenen Gedicht "The Hill We Climb" rund um den Globus bekannt wurde, entsprang prompt die Debatte, ob nur eine Woman of Colour das Gedicht der schwarzen Lyrikerin übersetzen könne- wobei mit dem Verb "kann" eher das Verb "darf" gemeint war. Der katalanische Übersetzer Victor Obiols kommentierte die Debatte, wenn er Gorman nicht übersetzen könne, dürfe er auch Homer nicht übersetzen, weil er kein Grieche des 8. Jahrhunderts vor Christi sei.

Die neue Angst vor öffentlichen Äußerungen

Der Begriff der "kulturellen Aneignung" ist ein zutiefst rückwärtsgewandter. Das hat wohl niemand besser auf den Punkt gebracht als die französische Regisseurin Ariane Mnouchkine, die in einem Interview sagte: "Die Kulturen gehören uns allen, sie sind unsere Quellen und in gewisser Weise auch heilig. Wir müssen gewissenhaft, mit Respekt und Dankbarkeit aus ihnen schöpfen. Aber wir können nicht akzeptieren, dass es uns verboten sein soll, uns ihnen zu nähern."

Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass viele junge Menschen Angst haben, sich öffentlich zu äußern. Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi beschreibt das so: "Wir haben eine Generation junger Leute in den Sozialen Medien, die solche Angst haben, eine falsche Meinung zu vertreten, dass sie sich der Fähigkeit beraubt haben zu denken, zu lernen und zu wachsen."

Die Schulpolitik der Republikaner in den USA und der identitätspolitische Furor so mancher "woken" Aktivisten haben unterschiedliche Ziele - aber ihre Wirkung ist die gleiche: Es ist egal, ob jemand aus Unwissen oder aus Angst die falschen Entscheidungen trifft. Aber für eine demokratische, emanzipatorische Entwicklung von Gesellschaften ist es fatal.

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Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus@martin.muno