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Politik

Pandemiebekämpfung auf deutsch

Thurau Jens Kommentarbild App
Jens Thurau
18. April 2021

Was genau tun wir da gerade in Deutschland? Und wer ist schuld an dem Elend? Angela Merkel? Der Föderalismus? Die Länder? Die Coronaleugner? Eine Annäherung an deutsche Befindlichkeiten in der Pandemie von Jens Thurau.

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Schild zur Maskenpflicht in Fußgängerzone
Maskenpflicht in der Flensburger Fußgängerzone: von punkt 6 bis 22 UhrBild: Christian Charisius/dpa/picture alliance

Seit einer gefühlten Ewigkeit beginnt mein einsamer Tag im Homeoffice mit dem Blick auf die neuen Inzidenzwerte. Oder auf die Anzahl der Geimpften. Schlechte Neuigkeiten, zumeist. Dann richte ich mich ein im Pandemiealltag, halte Abstand, setzte die Maske auf, treffe niemanden, konferiere mit den DW-Kollegen per Videoschalte.

Am schwersten ist es herauszufinden, welche Corona-Regeln für mich eigentlich gerade gelten. Wie viele Nachbarn, Freunde, Kollegen, Familienmitglieder auch, halte ich mich längst eher an eine Art persönlichen Lockdown. Meine eigenen Corona-Regeln und die der meisten meiner Lieben, behaupte ich mal frech, sind dabei strenger als die offiziell vorgeschriebenen. Wir kommen klar, alles in allem.

Mein Land versinkt währenddessen im Chaos. Deutschland, das Land der Effizienz und Zuverlässigkeit, der Pünktlichkeit. Warum ist das so? Sind die Kanzlerin und die Virologen schuld? Die Coronaleugner? Karl Lauterbach oder Christian Drosten? Die Länder, die Opposition, die Ministerpräsidenten? Der Föderalismus? Das Gefühl habe ich nicht. Wir sind es, die in Deutschland lebenden Menschen, unsere Mentalität, wenn es so etwas gibt. Vier Beobachtungen dazu. Wir mögen sie ja in Deutschland, diese Nummern vor den Absätzen. Also:

1) Wir achten zu penibel auf Vorschriften

In einem Corona-Impfzentrum an einem Mittwoch im April. Ein Mann erscheint und möchte sich freiwillig mit dem AstraZeneca-Impfstoff versorgen lassen. Der war zunächst nur für jüngere Menschen vorgesehen, jetzt wird er  an über 60 Jahre alte Menschen verimpft. Folge von vereinzelten heftigen Komplikationen bei einzelnen Geimpften, leider auch mit Todesfolge. Die Details sind kompliziert, wie alles in der Pandemie. Der Mann gibt an, in drei Tagen seinen 60. Geburtstag zu feiern. Er wird wieder weggeschickt. Zu jung. Obwohl genügend Impfstoff da ist. Es gibt zwar eine angestrengte Debatte im Impfzentrum, ob das nicht zu viel an Regelbefolgung ist. Aber egal, es siegt die penible Einhaltung der Vorschriften.

Menschen in zwei Kabinen in einem Impfzentrum in Berlin
Die strikte Einhaltung der Impfreihenfolge ohne Ausnahme ist typisch deutsch, meint DW-Korrespondent Jens ThurauBild: Sean Gallup/Getty Images Europe/dpa/picture alliance

Was fehlt, ist der Mut in Deutschland, Regeln auch mal nach ihrem Sinn auszulegen, die Grenzen zu überschreiten, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Wir leisten uns mitten in der dritten Welle der Pandemie eine Debatte über die Impfreihenfolge und ihre strikte Einhaltung und nehmen in Kauf, dass Hunderttausende Dosen ungenutzt herumliegen. Deutschland halt.

2) Wir jammern noch immer auf hohem Niveau

Viele andere Länder sind wesentlich härter getroffen von der Pandemie. Wir debattieren heftig über den Lockdown, der verglichen mit den Maßnahmen in anderen Ländern gar keiner ist. Portugiesen und Spanier konnten über Wochen ihre Wohnungen fast gar nicht verlassen, wir haben mitten im aufbrausenden Infektionsgeschehen Anfang März Lockerungsschritte beschlossen.

Im vergangenen Jahrhundert hat Deutschland die Welt zweimal in katastrophales Elend, in Tod und Verzweiflung gestürzt. Danach haben sich erst der Westen und später auch der Osten eingerichtet in Wohlstand und Abwesenheit von wirklichen Katastrophen. Bis zuletzt fanden Kriege, Hunger und Tod immer woanders statt. Selbst islamistische Terroristen haben woanders weitaus heftiger zugeschlagen als bei uns. Aber gefühlt kann es eigentlich niemandem so schlecht gehen wie uns. Deutschland halt. German Angst, sagt man ja so in der Welt.

3) Wir tun uns schwer mit der Digitalisierung

Alle internationalen Studien zeigen: Wo Bürokratie und Verwaltung digitalisiert sind, flache Hierarchien herrschen und klare Zuständigkeiten, wird das Virus effektiv zurückgedrängt. Deutschland tut sich schwer damit. Warum? Weil wir es offenbar nicht nötig haben. Wir bauen schicke Autos, teure Maschinen, entwickeln den (natürlich) weltbesten Impfstoff, wir sind immer noch ganz weit vorn beim Export. Unser Sozialsystem ist weltweit führend. Wir glauben deshalb: Wir müssen unser Leben nicht durchdigitalisieren, nicht wirklich jedenfalls.

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DW-Hauptstadtkorrespondent Jens Thurau

Wir haben heftige Datenschutzbedenken. Na klar, wir alle haben ein Smartphone. Aber meine Kinder, voll digitalisiert, führen mich alten Mann täglich in eine andere Welt, die die Kanzlerin vor nicht langer Zeit als "Neuland" bezeichnet hat. Oft nehmen sie mir das Ding leicht genervt aus der Hand und richten mir die neue App in Sekundenschnelle ein. Es ist beschämend. Wir sind nicht mehr auf Zack in Deutschland, es ging bisher auch irgendwie so. 

4) Wir wollen immer alles bis ins Kleinste regeln

Wenn wir mal neue Regeln aufstellen, dann richtig! Ein Großteil der weltweiten Fachliteratur zu Steuerfragen ist in deutscher Sprache verfasst. Warum? Weil wir Steuergesetze haben, die jeden noch so kleinen möglichen Lebenstatbestand abbilden wollen. Bis keiner mehr durchblickt.

In der Pandemie reagieren wir ähnlich. Der Autor und Kollege Sascha Lobo hat jetzt bei "Spiegel Online" folgende Bestimmung zum Maskentragen aus Hamburg zitiert: "Auf dem Alma-Wartenberg-Platz einschließlich der Bahrenfelder Straße im räumlichen Bereich zwischen und einschließlich der Hausnummer 135 beziehungsweise 146." Das geht so noch viele Zeilen weiter. Ein gescheiter Virologe hat neulich über das Virus und seine Verbreitung unter den Menschen gesagt, es sei wie beim Wasser. Es dringt chaotisch überall durch, es findet immer Wege. Die Deutschen versuchen, um in diesem Bild zu bleiben, erst einmal neue Kanäle und Rohrleitungen zu bauen.

So, genug mit der Selbstbeschimpfung. Es wird eine Zeit geben nach der Pandemie. Deutschland wird dann besser dastehen als die meisten Länder auf der Welt. Wieder einmal. Ich drucke diesen Kommentar jetzt aus, schiebe ihn in eine Klarsichthülle und verstaue ihn in meinem DW-Aktenordner. Macht man so in Deutschland!