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Brasilien im Stresstest

Brasilien Philipp Lichterbeck | Post aus Rio
Philipp Lichterbeck
8. September 2021

Ein Präsident, der seine Anhänger am Nationalfeiertag auf die Straße ruft und indirekt mit einem Putsch droht - allein das müsste Anlass für ein Amtsenthebungsverfahren in Brasilien sein, meint Philipp Lichterbeck.

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Jair Bolsonaro, mit Schärpe in den Nationafarben Brasiliens und einem kleinen Mädchen auf dem Arm, stehend und winkend in einem offenen Rolls Royce
Jair Bolsonaro, wie er sich selbst am liebsten sieht: in der Rolle des kommenden ErlösersBild: Marcelo Camargo/Agência Brasil

Jair Bolsonaro hat das Regieren schon vor langem eingestellt. Seine Regierung hat in drei Jahren einige lokale Infrastrukturprojekte eingeweiht und das Waffenrecht liberalisiert, was zu einem starken Anstieg der Waffenkäufe in dem notorisch gewalttätigen Land geführt hat. Ansonsten steht Bolsonaro für die fortschreitende Zerstörung des Amazonaswaldes, das Missmanagement der Corona-Pandemie mit inzwischen fast 600.000 Toten, die Polarisierung der Gesellschaft sowie die schwersten Angriffe auf Brasiliens Demokratie seit der Verfassung von 1988.

Was aber tut einer, der nichts vorzuweisen hat außer Katastrophen? Dessen Umfragewerte sinken, weil die Brasilianer merken, dass die Armut zunimmt, die Preise steigen und der Real immer weniger Wert ist. Die Antwort Bolsonaros lautet: Ausreden suchen, ablenken, lügen und andere beschuldigen.

Indirekte Drohung mit einem Putsch

Nicht anders sind die großen Demonstrationen zu verstehen, die jetzt am brasilianischen Unabhängigkeitstag stattfanden. Bolsonaro hatte den Tag im Vorfeld zum Tag der Entscheidung über ihn und seine Regierung erklärt - und indirekt mit einem Putsch gedroht. Wenn genug Menschen kämen, so hatte er gesagt, dann wäre das ein klares Votum des Volks für ihn. Es wäre gleichzeitig ein Misstrauensvotum gegen den Obersten Gerichtshof, mit dem er im Clinch liegt. Er hätte dann das Mandat der Straße, so die Lesart Bolsonaros, um das Oberste Gericht und den Kongress auszuschalten.

Brasilien Philipp Lichterbeck | Post aus Rio
Philipp Lichterbeck ist Korrespondent in BrasilienBild: Privat

Bolsonaro setzte Brasilien damit aus egomanischen Gründen einem Stresstest aus. Dass ausgerechnet an solch einem Feiertag Tausende Brasilianer auf die Straße gehen, um einen Putsch zu fordern, ist an böser Ironie nicht zu überbieten und zeigt das kollektive Delirium, von dem Brasilien erfasst wurde.

Bolsonaro ging es bei dem ganzen Zirkus ganz zuvorderst um die Bilder, den Schein. Die Demonstrationen waren in erster Linie dazu da, die angeblich große Unterstützung des Volks für Bolsonaro zu zeigen. Anhand der Fotos von Bolsonaro inmitten Tausender Fans kann er jetzt einfach behaupten, dass beispielsweise die für ihn negativen Umfragen gefälscht seien; und dass er die Wahlen im kommenden Jahr nur durch Wahlbetrug verlieren könne.

Nicht Gewaltenteilung - Alleinherrschaft!

Bezeichnend ist das verquere Demokratieverständnis des Bolsonarismus. Die Bewegung interpretiert Demokratie nicht als Balance zwischen den drei Gewalten, sondern als Alleinherrschaft Bolsonaros, dem sich sowohl Legislative und Judikative unterzuordnen hätten. Bolsonaro selbst drohte den Obersten Richtern am Unabhängigkeitstag, sie hätten innerhalb der Regeln der Verfassung zu spielen, andernfalls würde etwas passieren - dabei ist natürlich er selbst es, der immer wieder die Regeln bricht. Es steht ihm überhaupt nicht zu, anderen Verfassungsorganen Ultimaten zu stellen. Im Gegenteil: Der Präsident wird pflichtgemäß kontrolliert von Justiz und Parlament. Und so stünde spätestens jetzt die Einleitung eines Impeachmentverfahrens gegen den Präsidenten an.

Es ist schwer einzuschätzen, wie stark der Bolsonarismus noch ist. Fest steht, dass seine Anhänger fanatisiert sind. Als ob es ein Gebet wäre, wiederholen sie immer wieder, dass sie für Gott, die Nation und die traditionelle Familie seien (und gegen den Kommunismus, wo auch immer dieser sich verstecken mag). Auch am Unabhängigkeitstag hörte man unaufhörlich den bolsonaristischen Dreisatz. Gott, Familie, Nation. Doch sowohl Gott, Familie als auch Nation sind keine politischen Projekte, sondern offene Begriffe. Die Tragik Brasiliens ist, dass sie vom Bolsonarismus gekapert wurden, der damit nun die Gesellschaft spaltet.

Machterhalt als Schutz vor Strafverfolgung

Der Präsidenten lenkt damit von seiner miserablen Bilanz ab und verfolgt seine eigentlichen Motive: Machterhalt und Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung. Man darf nicht vergessen, dass der Auslöser für den Zorn Bolsonaros das Vorgehen des Obersten Gerichts gegen ihm wohlgesonnene Politiker und Youtuber war, die zu Gewalt aufgerufen hatten. Die Justiz ermittelt aber auch gegen Bolsonaros Söhne wegen jahrelanger Korruption und die Indizien gegen sie sind erdrückend. Auch Bolsonaro selbst dürfte irgendwann ins Visier der Strafverfolger geraten.

Brasiliens Präsident hat wörtlich erklärt, dass er der gottgesandte Retter Brasiliens sei. Ein Präsident, der zu solchem Wahn fähig ist, instrumentalisiert auch den Unabhängigkeitstag des Landes für seinen persönlichen Vorteil. Brasilien ist nur zu wünschen, dass Bolsonaro in seiner verbleibenden Amtszeit dem Land nicht noch mehr Schaden zufügt. Oder bald abgesetzt wird.