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Politik

Mein Europa: Die Mobilität der Welt

Stanislaw Strasburger
29. Dezember 2020

Die Geschichte ist keine Abfolge von Epidemien, Kriegen und Kataklysmen. Die Welt bleibt trotz aller Krisen mobil. Und die Corona-Pandemie erinnert daran, wie wenig wir kontrollieren können, meint Stanislaw Strasburger.

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Stanislaw Strasburger
Stanislaw StrasburgerBild: Mathias Bothor

Es ist Abend, Mitte November, ich bin in einer der wenigen geöffneten Bars in einer Küstenstadt an der portugiesischen Algarve - natürlich mit Abstand und im gut durchlüfteten Außenbereich. Plötzlich trillert eine Pfeife direkt neben meinem Ohr. Eine Gruppe von etwa zehn Frauen, die im Inneren einen Junggesellinnenabschied feiern, reagiert nur zögernd auf das Signal des Barkeepers. Eine von ihnen tanzt weiterhin auf dem Tisch, eine andere macht noch eine Umdrehung an der Stange. Der Barkeeper bemüht sich, die Frauen an separate Tische zu verteilen (die örtliche COVID-Regel besagt, man darf maximal zu sechst an einem Tisch sitzen), und zieht ihre Stühle weiter auseinander. Aber woher plötzlich diese Vorsicht? Dann sehe ich, dass der Mann mit zwei ausgestreckten Fingern immer wieder auf seine Schulter klopft: Er imitiert Rangabzeichen. Ein Streifenwagen der Polizei wird gleich patroullieren. Nachdem das Auto dann im Schritttempo vorbeigefahren ist, geht die Party weiter. Bis zur nächsten Streife.

Dieses eigentümliche Ritual mag empörend wirken. Doch die aktuelle Krise als eine globale Katastrophe zu sehen, der man mit aller erdenklichen Härte begegnen sollte, fügt sich für mich in ein entsprechendes Weltbild: Geschichte als eine Abfolge von Epidemien, Kriegen und Kataklysmen. Demnach sei es die Aufgabe des Menschen, das Chaos zu bändigen. So bringt es die polnische Journalistin Ewa Wanat auf den Punkt: "Es gibt keine Welt nach der Pandemie, es gibt nur eine Welt zwischen Pandemien."

Mobilität in Zeiten der Krise

Ich persönlich glaube nicht daran, dass die Welt ein kriegerisches Chaos der Gewalten ist. Vielmehr stelle ich mir die Unbeständigkeit der Welt als Mobilität von Mensch und Natur vor. Seit Oktober beobachte ich diese Mobilität von der Algarve aus. Abgesehen von den etwas mehr als 400.000 portugiesischen Staatsbürgern leben hier dauerhaft rund 150.000 Ausländer. Hinzu kommen weitere, die in der Region überwintern. Einige haben es im Herbst wegen COVID-19 nicht hierher geschafft, andere sind gerade aus diesem Grund gekommen. Zum Beispiel: Ein Rentnerpaar - er ein ehemaliger Unternehmer mit niederländischem Pass, sie Kindergärtnerin und Physiotherapeutin mit einem dänischen. Da sind auch ein schwedischer Staatsbürger, der Projekte für ein deutsches Unternehmen online evaluiert, und seine Frau aus Mosambik. Ich lerne auch einen Tattookünstler aus Angola kennen, eine russischsprachige Verkäuferin in einer Konditorei, eine Masseurin aus Polen, einen Friseur aus Brasilien und schließlich eine junge Frau aus Malawi, die nach Großbritannien wollte, aber auf der Durchreise steckenblieb, als der Lockdown im Frühjahr begann.

Portugal | Stadtansicht Praia da Luz
Praia da Luz, Algarve - "Strand des Lichts"Bild: imago images/Shotshop

Einige von diesen Menschen glauben, ein Europa ohne Grenzen mache sogar in der Krise einen Sinn. Andere beeindruckt die aktuelle Lage wenig: Sie sind um den halben Globus gereist und sahen sich schon zahlreichen anderen Gefahren ausgesetzt. Viele von uns sind es gewohnt, solche Menschen als unglückliche Ausnahmen zu betrachten - Außenseiter, in deren Leben etwas "schief gegangen" sei, oder Geflüchtete, die aus ihrer Heimat mit Gewalt vertrieben wurden. Doch auch wenn Unglück ein Grund für Mobilität sein kann, ist es bei weitem nicht der einzige. Ist die Geschichte der Menschheit nicht vielmehr die Geschichte von Mobilität? Mobilität, die sich weder bändigen noch kontrollieren lässt?

Den Kontrolldrang kontrollieren

Ungefähr so scheinen das die hiesigen Polizeibeamten zu sehen. "Die Regierung tut so, als ob sie alles kontrollieren könnte", sagt mir privat einer von denen, die regelmäßig Streife fahren. "Aber was können die schon bewirken? Du kontrollierst an einer Stelle, und an einer anderen läuft es gleich aus dem Ruder. Und außerdem: Was machen wir, wenn unsere Bars bankrott gehen? Wollen wir etwa, dass die Menschen, die hier arbeiten, alle nach Deutschland auswandern, um bei euch die Drecksarbeit zu erledigen? Oder sollen sie ohne Arbeit und Geld hier bleiben und erst recht Probleme machen?"

Katastrophen, die kleineren und die größeren, verhindern Mobilität nicht. Sie erinnern uns daran, wie wenig wir Menschen wirklich kontrollieren können. Wie wird die Welt nach der Krise aussehen? Wird man nur mit einem Impfpass reisen können? Der COVID-19-Impfstoff wäre nicht der erste, der mehr oder weniger die gesamte Menschheit betrifft. Zudem ist es bei Reisen an manche Orte seit langem Pflicht, sich zusätzlich impfen zu lassen.

Deutschland Corona-Pandemie | Testzentrum Flughafen
COVID-19-Testzentrum am Flughafen Frankfurt am MainBild: Frank Rumpenhorst/dpa/picture-alliance

Mobilität ist aber nicht nur das Privileg einer Flugreise, mit einem Visum im Pass und einer prallen Brieftasche. Mobilität bedeutet auch die vielen Menschen, die mehr oder weniger entgegen der politischen Weltordnung ihren Wohnort wechseln. Mobilität heißt oft das Fehlen eines Reisepasses (oder des entsprechenden Visums) und eine leere Brieftasche. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, Mobilität ist der Glaube daran, dass die Welt nicht nur Krieg, Gewalt und Katastrophe ist, sondern ein Leben, in dem man genug Mittel hat, um sich ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und die Schule für die Kinder leisten zu können. Und wenn ich zufälligerweise an einem Ort geboren wurde, wo das nicht möglich erscheint, oder auch nur, wo es mir persönlich nicht besonders gefällt, kann ich woanders hingehen. Ich kann mobil sein. Daran wird auch COVID-19 langfristig nicht viel ändern.

Der Katastrophenfetisch

Wenn man vergisst, wie unberechenbar die Welt ist, kann man sich leicht von Katastrophenbildern hypnotisieren lassen. Je stärker unser Glaube ist, dass wir die Mobilität des Lebens kontrollieren können, desto enttäuschter fühlen wir uns, wenn wir merken, dass es nicht geht. Diese Enttäuschung malt die Realität in den dunklen Farben von Gewalt und Chaos, die es zu bändigen gelte. Zugegeben, am Ende weiß niemand, wie die Welt ist. Doch der Katastrophenfetisch verleitet zu leichtfertiger Empörung und dazu, Menschen, die von der Mobilität Gebrauch machen, zu verteufeln. Und falls sich jemand fragt: Nein, im Dezember sind die COVID-Zahlen in der portugiesischen Küstenstadt nicht explodiert. Sie sind sogar deutlich zurück gegangen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Stanisław Strasburger ist Schriftsteller und Kulturmanager. Sein aktueller Roman "Der Geschichtenhändler" erschien 2018 auf Deutsch (2009 auf Polnisch und 2014 auf Arabisch). Der Autor wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario". Der obige Text ist eine Erweiterung seines polnischsprachigen Feuilletons für Radio Cosmo.

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"