Mein Deutschland: Wenn ein Vogel zum Verhängnis wird
9. Mai 2018Chinesen haben eigentlich ein liebevolles Verhältnis zu Vögeln. Man denke an die älteren Herren, die in aller Herrgottsfrühe mit ihrem Vogelkäfig im Park spazieren gehen. Wenn es aber um die Schriftzeichen der Vogelarten geht, verstehen sie keinen Spaß mehr. Dabei sind es ganz viele - komplizierte und seltene dazu, zum Beispiel 鹪(jiao), 鹬(yu), 鹫(jiu) oder 鸜(qu).
Vergangene Woche stand in China ein spezieller Vogel im Fokus der Öffentlichkeit: der Schwan (鸿鹄, honghu), um den sich eine schöne Geschichte rankt. An einem heißen Sommertag zu Beginn des dritten Jahrhunderts v. Chr. sagte ein Bauer namens Chen Sheng während der Feldarbeit zu seinen Freunden: "Wenn es einer von uns zu Ruhm und Reichtum bringt, soll er die anderen nicht vergessen." Doch darauf erntete er nur spöttische Blicke. Chen Sheng seufzte: "Was weiß ein Spatz schon von den Gedanken und Zielen des riesigen Schwans?" Kurz danach führte Chen Sheng den ersten Bauernaufstand der chinesischen Geschichte an und trug zum Zusammenbruch der Qin-Dynastie bei. Diese Anekdote hat der bekannte Historiker Sima Qian aufgeschrieben. Daraus ist die Redewendung "das Ziel des Schwans" (鸿鹄之志,honghu zhizhi) entstanden, die für großen Ehrgeiz steht. Zu solchen schwanengleichen Ambitionen hat der Rektor der Peking-Universität, Lin Jianhua, am 4. Mai, dem 120. Geburtstag dieser Eliteuniversität, seine Studenten angespornt. Es wäre eine runde Feier geworden, wenn Herr Lin nicht aus dem "Honghu" ein "Honghao" gemacht und sich damit in den Augen von Millionen Chinesen bis auf die Knochen blamiert hätte. Manche forderten gar seinen Rücktritt.
Ein unerhörter Fauxpas
Unverzeihlich finden sie es, weil die Geschichte über den Bauern Chen Sheng und seine hochgesteckten Ziele in jedem Schulbuch steht und von daher jeder halbwegs gebildete Chinese das Zeichen "鹄" richtig aussprechen können sollte. Erst recht der Rektor einer Universität, die im vergangenen Jahrhundert bedeutende Denker und Literaten hervorgebracht hat.
Mir tut der Rektor aufrichtig leid. Als er zur Schule ging, war gerade die Kulturrevolution in vollem Gange. Die Schüler lernten - wenn überhaupt - nur ein paar Reden von Mao. Dann ist Herr Lin von Hause aus Chemiker. Das alles soll nicht das Defizit seiner Allgemeinbildung rechtfertigen. Die Frage ist nur, wie viele der 4000 Redewendungen und 7000 Schriftzeichen man sicher in Sinn und Ton kennen muss, um als jemand anerkannt zu werden, der über eine solide Allgemeinbildung in Sachen Muttersprache verfügt. Das Perfide ist nämlich, dass dieselbe Silbe mit derselben Tonhöhe Dutzende unterschiedlicher Zeichen umfassen kann und viele der Zeichen auch mehr als eine Aussprachemöglichkeit haben - manche werden darüber hinaus noch innerhalb einer Redewendung anders ausgesprochen. Mit anderen Worten: Will man mit dem Wissen einer Redewendung glänzen, trifft dabei aber den falschen Ton, kann der Schuss nach hinten losgehen.
Ich glaube, jetzt habe ich endlich begriffen, warum sich chinesische Politiker so schwer tun, freie Reden zu halten. Wäre ich Politikerin in China, würde ich mich vor jeder Rede der hundertprozentig korrekten Aussprache per Wörterbuch vergewissern und beim öffentlichen Auftritt keinen Millimeter vom Manuskript abweichen.
Deutsch - eigentlich leicht wie ein Kinderspiel
Können die Politiker hierzulande nun ihr Glück fassen, nicht in China geboren zu sein? Statt mit 7000 Schriftzeichen, 4000 Redewendungen und Tausenden von Sprichwörtern müssen sie sich nur mit 26 Buchstaben und ihren Variationsmöglichkeiten auseinandersetzen. Ganze 400 Wörter reichen aus, um die Bild-Zeitung zu verstehen. Das Zehnfache ist nötig, um ein guter Redner zu sein. Hinzu kommen noch die ziemlich lästigen bestimmten Artikel zu jedem Substantiv, die beherrscht werden wollen und auch sonst ein paar grammatikalische Regeln. Aber im Prinzip ist das schon alles.
Und was machen die Politiker mit der deutschen Sprache? Sie schludern mit der Grammatik, leisten sich grobe Versprecher und wetteifern um sinnfreie Worthülsen und Phrasen. Ich habe noch den peinlichen Tweet der SPD aus Nordrhein-Westfalen in Erinnerung, in dem sie für ihren Bildungserfolg warb: "7200 Lehrer mehr seid 2011!" Gefühlt jeden zweiten Tag höre ich einen Politiker sagen: "Ich bin das gewöhnt." Dafür hätte es in China Punktabzug gegeben. Dort habe ich gelernt, dass man an etwas gewöhnt oder etwas gewohnt ist. Regeln sind dazu da, um beachtet und befolgt zu werden, hat man mir beigebracht und so habe ich es während meines Integrationsprozesses beherzigt. Ist das inzwischen aus der Mode gekommen? Inzwischen habe ich fast das Gefühl, dass Regeln allein dazu da sind, im Schaufenster ausgestellt zu werden. Wenn ihnen keiner Aufmerksamkeit schenkt, ist das nicht schlimm, dann setzen sich eben alternative Regeln durch. So wird im Duden, der Bibel für korrektes Deutsch, immer öfter beides akzeptiert - das richtige und das früher falsche.
Nicht-Muttersprachler hören genauer hin
Ich verstehe nicht, warum das alles scheinbar nur mir auffällt. Nehmen wir den schlimmsten Versprecher von Kanzlerin Angela Merkel aus dem Jahr 2015. Da sagte sie mit ernster Miene im Bundestag: "Antisemitismus ist unsere staatliche und bürgerliche Pflicht." Während ich meinen Ohren und Augen kaum trauen konnte, zeigten indes die anwesenden Abgeordneten kaum Regung im Gesicht. Hörten die überhaupt zu?
Für Worthülsen und Phrasen muss ich keine Beispiele nennen. Täglich sind wir von ihnen umgeben. Für mich auch eine Art Verrohung der Sprache. Ich kann mich nur glücklich schätzen, dass ich das feingeschliffene Deutsch eines Richard von Weizsäcker und die rhetorische Schärfe eines Helmut Schmidt noch erleben durfte.
Auch die Festrede des Universitätsrektors Lin war nichts als eine Aneinanderreihung von Phrasen. Doch wenigstens wird in China die Fahne der korrekten Sprache noch hochgehalten.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
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