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Ein Plädoyer fürs Auswendiglernen

Zhang Danhong24. September 2015

Unsere Kolumnistin Zhang Danhong findet es befremdlich, dass an deutschen Schulen so gut wie gar nichts auswendig gelernt werden muss. Sie ist damit aufgewachsen und hat nicht darunter gelitten.

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Schule Unterricht Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/Reinhardt

"Hier ist Deutschland. Hier ist Franken. Franken ist in Süddeutschland." So fing ich in China an, Deutsch zu sprechen. Dann lernten wir durch das Lehrbuch Hans und Lieselotte kennen, gingen mit ihnen zur Schule, zur Apotheke und zum Supermarkt. Die Szenen spielten wir in der Klasse nach. Mit anderen Worten: Alle Sätze mussten auswendig gelernt werden. Grammatik wurde erst verabreicht, als wir bereits Hunderte von deutschen Sätzen im Kopf hatten. Dadurch wurden die komplexen Regeln leicht verdaulich.

Dann kam der wunderschöne "Monat Mai, als alle Knospen sprangen. Da ist in meinem Herzen, die Liebe aufgegangen". Die Euphorie paart sich mit der Melancholie: "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin, ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn." Die schönen Verse schrien danach, auswendig gelernt zu werden. Auch bei einer schweren Kost wie Goethe's Faust stolpert man über sprachlich leichte, aber tief philosophische Zeilen wie "Es irrt der Mensch, solang er strebt", die man einfach auf der Zunge zergehen lassen muss und sie dann im Kopf und Herzen behält. "Learn by heart" - der englische Begriff ist eigentlich die passendere Bezeichnung für diesen Vorgang.

Zhang Danhong Kommentarbild App
DW-Redakteurin Zhang Danhong

Gedichte aus dem 8. Jahrhundert sind noch aktuell

Der chinesische Begriff für "Auswendiglernen" heißt "Beisong" - Vortragen ohne Text. "Vortragen" ist nicht nur die phonetische Wiedergabe eines Textes, sondern auch eine Art Darstellung, gehört also in den Bereich der Kunst. Sowohl für den Vortragenden als auch für den Zuhörer soll es im Idealfall ein Genuss sein. Ich werde nie vergessen, wie mein Vater die wunderbarsten Vierzeiler aus der Tang-Dynastie - die Blütezeit der chinesischen Lyrik - rezitierte und dabei genussvoll mit dem Kopf wedelte. Ich war damals sechs Jahre alt und konnte bereits selbst zwei Dutzend Tang-Gedichte vortragen - für chinesische Verhältnisse durchaus üblich.

China Skulptur der Konkubine Yang Guifei
Die schöne Konkubine nach einem Bad in der Thermalquelle Huaqing der Provinz ShaanxiBild: Imago/V. Preußer

Dabei wird nicht nur ein Gefühl für die Sprache entwickelt, es wird auch Geschichte gelernt. Welcher Chinese kennt nicht die traurige Romanze zwischen dem Tang-Kaiser Li Longji und seiner bezaubernden Konkubine Yang Guifei? Versunken in sein Liebesleben vergaß Li die Regierungsgeschäfte. Ein General nutzte den Unmut im Volk aus und probte im Jahr 755 den Aufstand. Auf der Flucht musste der Kaiser seine Geliebte opfern, denn sonst hätten ihm seine Soldaten den Gehorsam verweigert. Li trat bald zurück und verbrachte den Rest seines Lebens in Tränen und Einsamkeit. Das Drama gab Dichter Bai Juyi in 120 Zeilen zum Besten - die rührendste Ballade, die ich je gelesen habe. Dazu ein sehr rhythmisches Gedicht, das trotz der Länge leicht auswendig zu lernen ist.

Balladen - ein Fall für Rapper?

Auch die deutsche Lyrik ist reich an klang- und gefühlvollen Balladen. "Erlkönig" und "Zauberlehrling" von Goethe, "Das Lied von der Glocke" und "Die Bürgschaft" von Schiller, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Bis vor einigen Jahrzehnten wurden sie auch fleißig an deutschen Schulen rezitiert. Dann fand die Reformpädagogik breiteren Raum und das Auswendiglernen wurde verpönt. "Man unterstellte dem Auswendiglernen, dass es ein dumpfer Vorgang sei und spielte es gegen die Kreativität aus", sagt Volkmar Hansen, Germanistikprofessor an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Das erklärt, warum meine Kinder im Deutschunterricht an der Grundschule kein einziges Gedicht vortragen mussten. Es ehrt die Lehrerin, dass sie wenigstens im Rahmen der Weihnachtsfeiern die Schüler ermutigte, Balladen wie "Erlkönig" oder "John Maynard" von Theodor Fontane auswendig zu lernen. Oder genauer gesagt: zu rappen. Anscheinend kann den heutigen Kindern nur noch auf diese Art und Weise das Auswendiglernen zugemutet werden.

Je mehr Training, desto fitter

Dabei "stärkt jede Form von Auswendiglernen, auch wenn es das Telefonbuch wäre, das Gedächtnis", meint Rolf Sabel, Lateinlehrer und Buchautor aus Köln. Das Gedächtnis sei wie ein Muskel, den man trainieren müsse. Damit er bei seinen Schülern nicht verkümmert, erwartet er von ihnen, neben den Vokabeln auch Reden von Cicero und Caesar auswendig zu lernen. Die Schüler stehen dann vor der Klasse und tragen die Texte vor - wie in der alten Römerzeit. Für das Tragen einer Toga gibt es Extrapunkte.

Rolf Sabel
Rolf Sabel trainiert den Gedächtnis-Muskel seiner SchülerBild: Privat

Leider gehören Lehrer wie Rolf Sabel eher zu den Ausnahmen an deutschen Schulen. So darf es nicht verwundern, wenn viele Jugendliche den Dichterfürsten aus Weimar nur noch im Zusammenhang mit "Fack ju Göthe" kennen.

Untergräbt das Auswendiglernen tatsächlich die Kreativität oder die Fähigkeit zum Denken? Volkmar Hansen glaubt an das Gegenteil: "Wenn ich einmal eine Substanz habe, die bei mir im Gehirn abgelagert ist, dann kann ich erst damit anfangen, das Denken überhaupt zu entwickeln." Haben wir in China nicht genauso die deutsche Sprache erlernt?

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.