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Gesellschaft

Ein Junge von einem anderen Stern

Zhang Danhong
12. Juli 2018

Die Rede eines chinesischen Grundschülers bei einem Rhetorikwettbewerb wurde im Internet zum Hit. Seine scheinbar banalen Worte enthalten Weisheiten, von denen auch die deutsche Politik lernen kann, meint Zhang Danhong.

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Youtube Screenshot - Schüler in China spricht über Traum
Bild: youtube.com - 别急霸王

"Ich habe einen Traum" - darüber sollten die Kinder reden. Zu genau diesem Thema musste ich schon als Grundschülerin einen Aufsatz schreiben. In meiner Kindheit war es üblich, zu solchen Anlässen hohle Phrasen zu dreschen, zum Beispiel: "Mein Traum ist es, den Ruhm des Vaterlandes zu mehren" oder "dem Volke zu dienen". Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Kapitalismus hat längst im sozialistischen China Wurzeln geschlagen. Das hat die Einstellung der Menschen beeinflusst, wie die Rede des lässig wirkenden Jungen zeigt.

Mein Traum ist, reich zu werden

"Jeder hat einen Traum, nach dem er strebt. Mein Traum ist, reich zu werden", sagt er gleich unverblümt. Er wolle reich werden, nicht um zu spenden und anderen zu helfen. "Wozu häuft man Geld an? Um es anderen zu geben? Das ist doch unrealistisch." Natürlich solle man anderen helfen, wenn man finanziell dazu in der Lage sei. Aber sich für andere einzusetzen sei nicht der Grund für seinen Traum.

Zhang Danhong
DW-Redakteurin Zhang DanhongBild: V.Glasow/V.Vahlefeld

Dann erzählt er von dem Druck, der seit einiger Zeit auf ihm lastet. "Jeden Tag dasselbe. Was ich heute tue, tat ich auch gestern, vorgestern und vorvorgestern." Er fürchtet, dass es mit dem Beginn des Berufslebens noch monotoner werde. Früh raus, spät zurück, der Lohn halte sich in Grenzen. Man lebe wie im Käfig. Und er blickt noch weiter nach vorne: "Hockt man als Rentner zu Hause, wird das Leben vollkommen sinnlos. Dann denkt man zurück und fragt sich: Habe ich mich nur im Kreis gedreht? Wozu das Ganze?"

Im Teufelskreis oder in Freiheit - das ist die Frage

Unter Gelächter und Applaus sagt der Junge weiter: "Diesen mechanischen Kreislauf will ich durchbrechen." Die Reichen, die er kenne, hätten mehr Freizeit und könnten Dinge tun, die ihnen Spaß bereiten. "Man lebt nur die paar Jahrzehnte. Die Frage ist, ob man sie im Kreis (einem Teufelskreis) oder in der Freiheit verbringt." Er habe sich für die Freiheit entschieden und kehrt am Ende nochmal zum Thema zurück: "Deswegen träume ich davon, reich zu werden."

Ist das nicht eine sensationelle Rede? Der junge Mann zeigt den Mut, sich mit der wichtigsten Frage der Menschheit auseinanderzusetzen: Was ist der Sinn des Lebens? Bereits mit wenigen Jahren Lebenserfahrung (ich schätze ihn auf zehn) hat er das Absurde entdeckt: Du hetzt und hechelst, Dir wird schwindlig im Hamsterrad. Dennoch kommst Du keinen Millimeter weiter. Steckt da nicht schon ein kleiner Franz Kafka in dem Jungen?

Denken in Dekaden, nicht nur für vier Jahre

Dabei denkt er in Dekaden. Er kann sich genau ausmalen, wie es in 50, 60 Jahren um ihn bestellt sein wird, wenn er das Hamsterrad nicht verlässt. Diesen Weitblick vermisse ich zum Beispiel bei der deutschen Bundesregierung, deren ganzes Bestreben darin zu bestehen scheint, diese eine Legislaturperiode zu überstehen.

Der bedrückende Blick in die nahe und ferne Zukunft hat den jungen Chinesen aber nicht in Lethargie und Depression gestürzt. Im Gegenteil: Er ist entschlossen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um den mechanischen Kreislauf zu durchbrechen.

An dieser Stelle ist er vage geblieben, wie er das zu bewerkstelligen gedenkt. Es wäre aber nicht fair, von einem Zehnjährigen einen Masterplan für sein Leben zu erwarten. Immerhin hat er bereits Vorbilder gefunden: die Wohlhabenden, die er aus der Nähe und durch die Medien kennt. Meistens sind es erfolgreiche Unternehmer, die eine pfiffige Idee umgesetzt haben. Ich kenne eine Frau in Peking, die den Bedarf an Babysittern entdeckt und sich durch die Vermittlung von zuverlässigen Aufsichtsfrauen für die kleinen Kaiser eine goldene Nase verdient hat. Oder der Unternehmer Li Bin, der gerade in Berlin im Beisein vom chinesischen Premier Li Keqiang und Kanzlerin Merkel ein Abkommen mit dem Autozulieferer Bosch unterzeichnet hat. Er sah in der Kombination von Internet und Elektromobilität die Zukunft der Automobilbranche und gründete vor gerade mal vier Jahren die Firma Nio.

DW Kolumne Zhang | Li Bin, Unternehmer
Nio-Gründer Li Bin auf dem Jahrestreffen der Peking University Alumni Association of Germany am 8. JuliBild: DW/D. Zhang

Leider regnet es kein Geld

Während in China immer noch eine Goldgräberstimmung herrscht, nimmt hierzulande die Zahl der Firmengründungen stetig ab. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund ist sicherlich, dass sich viele in Deutschland eher den Kopf zerbrechen, wie das angeblich massenhaft vorhandene Geld zu verteilen ist. Nur die wenigsten scheinen noch zu wissen, dass auch in einem reichen Land wie Deutschland das Geld weder aus dem Wasserhahn noch aus der Steckdose kommt, sondern zuerst einmal erwirtschaftet werden muss.

So realitätsfern ist unser junger Chinese nicht. Er weiß, dass er für seinen Traum einiges tun muss. Er will für sich reich werden, nicht für andere. "Wozu häuft man Geld an? Um es anderen zu geben? Das ist doch unrealistisch." Damit hat er mit den Worten eines Zehnjährigen den Kern des Kapitalismus erfasst. Die Gier nach Reichtum und persönlichem Glück treibt den technologischen Fortschritt an - nicht die Nächstenliebe.

Deutsche Jugendliche wollen die Welt retten

Das Kuriose ist, dass ein solches Plädoyer für den Kapitalismus in der Heimat der sozialen Marktwirtschaft gar nicht gut ankommen würde. Als kaltherzig und egoistisch würde er hierzulande abgestempelt werden. Bei den deutschen Jugendlichen habe ich im Moment das Gefühl, dass, wenn sie nicht gerade die Welt retten wollen, sie zumindest das schlechte Gewissen plagt, dass es ihnen so gut geht. Deswegen ist Menschlichkeit gefragt - für jeden und um jeden Preis. Wollen wir nach dem Recht oder menschlich handeln - darüber wurde neulich in der Klasse meiner Tochter diskutiert. "Muss das ein Widerspruch sein?", fragte sie mich. Da dachte ich, eigentlich müssten deutsche und chinesische Jugendliche einmal gemeinsam debattieren. Vielleicht entsteht danach in beiden Gruppen eine gute Mischung aus Realismus und Idealismus.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 25 Jahren in Deutschland.

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