Luther als Liederdichter
26. Oktober 2017Schweinfurt 1532: Eine altgläubige (katholische) Kirchengemeinde möchte sich liebend gern der Reformation anschließen. Doch der Priester weigert sich entschieden. Daraufhin stimmt die aufgebrachte Gottesdienst-Gemeinde das vom Reformator Martin Luther gedichtete Lied "Ein feste Burg ist unser Gott" an. Die Gläubigen singen den Priester nieder. Der flieht daraufhin in seiner Not aus der Kirche. In den Tagen danach, hätten Jugendliche das Lied auf den Straßen der Stadt geschmettert, erzählt der Theologe und Journalist Burkhard Weitz: "Daraufhin ist wenig später in Schweinfurt tatsächlich die Reformation eingeführt worden."
Martin Luther (1483 – 1546) ist seit 500 Jahren als wortmächtiger Redner und sprachgewaltiger Verfasser theologischer Schriften im Gedächtnis der Menschen verankert. Der Liederschreiber und Musiker Martin Luther dagegen ist vielen bis heute kaum bekannt. Dabei hat er nicht nur beim theologischen Erneuern des christlichen Glaubens eine Schlüsselrolle gespielt, sondern auch ein neues Kapitel des geistlichen Singens aufgeschlagen. Der erfolgreiche Musiker und Musikproduzent Dieter Falk gesteht: "Luther ist für mich der erste Popmusiker der Kirche. Und Pop heißt nichts anderes als populär." Wie kam es dazu?
Musikalisch begabt und geschult
Bereits im Alter von 14 Jahren – Luther besucht die Lateinschule in Eisenach - wird der spätere Begründer der evangelischen Kirche in Musiktheorie ausgebildet. Er singt im Kirchenchor und einem Schülerchor. Später studiert er an der Erfurter Universität neben der Theologie auch Musik sowie Sanges- und Kompositionstechnik. Luther spielt Laute und Querflöte, schreibt vierstimmige Sätze und ist Mitglied eines Musikkreises, also einer Art Band. "Er hat sogar überlegt, ob er Musiker werden soll, sich dann aber für die Theologie entschieden", erzählt Burkhard Weitz im DW-Gespräch.
Zum Glück, mögen die meisten heute sagen, denn erst das Theologie-Studium versetzt Luther in die Lage, um ab 1517 all die kirchlichen Veränderungen in Angriff nehmen zu können, die danach auch die gesellschaftliche und politische Denkweise am Beginn der Neuzeit umgekrempelt haben.
Harte Auseinandersetzungen mit Papst und Klerus sowie dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, theologische Disputationen, das Verfassen elementarer reformatorischer Schriften, das Verhängen des Kirchenbanns gegen ihn, die Ächtung als Rechtloser, Verfolgung und Flucht – Luther steht unter permanentem Druck. Für Musik bleibt da zunächst vermutlich kaum Zeit.
Beginn des Liederschreibens
Das ändert sich im Jahr 1523. Da entsteht das erste von ihm komponierte Lied - ein Art "Trotz-Lied". "Als in Brüssel die ersten Märtyrer verbrannt wurden, die Luthers Lehre anhingen, war der Reformator erschrocken und entsetzt. Infolge dessen kommentiert er das Geschehen mit einem Lied", erzählt Burkhard Weitz. Noch ganz gefangen vom schrecklichen Martyrium folgt unmittelbar danach das Lied "Nun freut euch, liebe Christen g'mein und lasst uns fröhlich springen". Luther legt in zehn Strophen dar, wie Gott den sündigen Menschen erlösen will. Das Lied spricht viele an und hat großen Anteil an der Ausbreitung des reformatorischen Gedankenguts. Überall wird es gesungen und sogar auf fliegende Blätter gedruckt. Sein Verfasser entdeckt, welche enorme Wirkung ein Lied entfalten kann.
Dichterische Serienproduktion
Hoch motiviert, macht Luther sich daran, lateinische Hymnen zu übersetzen. Er fasst Psalmen, also Lieder und Gebete des Alten Testaments der Bibel in Reime und interpretiert sie. Außerdem verpackt er in neuen Liedern weitere komprimierte zentrale reformatorische Glaubensaussagen. 24 davon entstehen in den folgenden zwölf Monaten.
Darunter eines, das über die Jahrhunderte hinweg vielen Christen ein Mutmacher ist. "Mein Lieblings-Choral ist 'Aus tiefer Not schrei ich zu dir'. Da spricht Luther aus seinem innersten heraus und das sind die Lieder, die bei mir eine Gänsehaut verursachen", gesteht Musiker Falk im DW-Interview. "Auf der Instrumental-CD, die ich Luther gewidmet habe, habe ich mich am Klavier bei diesem Lied am wohlsten gefühlt, weil ich mich in seine Seelenlage hineinversetzen konnte." Mit diesem Choral zeigt Luther, dass er nicht nur dichten, sondern auch komponieren kann.
Rezeptur für einen Kirchen-Hit
Das ist längst nicht immer so. Wenn eine Melodie zum Text passt, bedient Luther sich mit Bedacht auch bei den Liedern, die die Menschen im Wirtshaus und auf der Straße singen: Bänkellieder, Gassenhauer, Volksweisen. So ist die Urfassung des Weihnachtslieds "Vom Himmel hoch, da komm ich her" von einem Bänkellied abgekupfert. "Der Typ hatte keine Hemmungen", meint Falk und unterstreicht außerdem: "Wenn ich mal die Choräle 'Vom Himmel hoch, da komm ich her' und das fast baugleiche 'Ein feste Burg ist unser Gott' nehme, komme ich zu dem Schluss: nicht nur Dieter Bohlen klaut von sich selbst, auch Martin Luther hat das getan. Diese Lieder sind Hits." Falk muss es wissen, denn die von ihm produzierten Tonträger - etwa für Patricia Kaas, Pur, Roger Chapmann, Paul Young oder Guildo Horn - wurden mehr als 20 Millionen mal verkauft.
"Ohrwürmer ist das Stichwort", sagt Falk. "Ein Ohrwurm ist ja das, was sich im Langzeitgedächtnis festsetzt. Luthers Strophenform ist recht einfach. Es gab nicht das, was man heute bei Popsongs hat, eine Strophe, einen Refrain und noch einen C-Teil. Das waren reine Strophen. Manchmal gab es noch einen Kehrvers wie bei Volksliedern."
Eingängige Melodien und leicht zu merkende Verse - die ideale Kombination in einer Zeit, in der die meisten Menschen weder Noten noch Schrift lesen können. "Das ist ja der Vorteil des Liedes, dass man zwei Wege hat: einmal die rhythmischen und gereimten Verse und dann die Melodie", sagt Burkhard Weitz. "Wenn man zwei Wege hat, kann man sich solche Dinge leichter merken".
Vom Merken zum Drucken
Mit Merken allein, ist es jedoch nicht getan. Schon Ende 1523 erscheint mit dem "Achtlieder Buch" die erste reformatorische Liedsammlung. Vier der acht Lieder stammen aus der Feder Luthers. Alle 24 Lieder erscheinen im Jahr darauf in einem Chorgesangbuch für Schulkantoreien als mehrstimmige Sätze.
Weil Luther keineswegs allein dichtend und komponierend aktiv sein möchte, schreibt er 1523 seinem Mitstreiter und Freund Georg Spalatin: "Ich habe die Absicht, … Psalmen für das Volk herzustellen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe. Wir suchen dabei überall nach Dichtern…". Ein Aufruf der eine ungeahnte Resonanz hervorruft. Mehr und mehr Christen trauen sich, ihren Glauben auf Deutsch und in Reimen auszudrücken.
Deutsche Lieder im Gottesdienst
Als nächstes macht sich Luther daran, den Gemeindegesang in der bis dahin lateinischen Messe zu etablieren. Burkhard Weitz sagt: "In seiner Schrift 'Formula missae' von 1523 beklagte Luther, dass 'allein der Chor der Pfaffen und Schüler singt und antwortet, wenn der Bischof das Brot segnet oder Messe hält'. Also fordert er 'deutsche Gesänge, die das Volk unter der Messe singe'." Luther war es wichtig, dass die Menschen im Gottesdienst verstehen, worum es geht.
"Deshalb wollte er auf deutsch predigen, die Liturgie auf deutsch halten und auch auf deutsch singen." An seinem Hauptwirkungsort Wittenberg kann der Reformator dieses Ansinnen durchsetzen. Weil er weiß, dass er die Mehrzahl der Landsleute nur über die Muttersprache erreicht, schreibt Luther 1526 eine Messe in Deutsch, also eine Gottesdienstordnung, in die er dann die ebenfalls deutschen Gesänge einfügt. Damit bekommt die Gemeinde plötzlich eine ungewohnt neue Rolle. Statt passivem Schweigen und Zuhören, wie bis dahin üblich, gestaltet sie nun den Gottesdienst durch den Gesang aktiv mit.
Sprachempfinden und musikalisches Gespür gehören für Luther beim kreieren der Lieder zusammen. Allerdings soll nach seinem Verständnis die Musik dem Text dienen. Der Gesang insgesamt wiederum soll die Verkündigung der Frohen Botschaft zum Ziel haben.
Scharfe Waffen einer singenden Bewegung
Die propagandistische Wirkung von Luthers Liedern und denen anderer Dichter ist immer wieder dokumentiert. Nicht ohne Grund verbietet die Bischofsstadt Hildesheim zweimal, 1524 und 1531, das öffentliche Singen reformatorischer Lieder. Sie gehörten mit zu den schärfsten Waffen der kirchlichen Erneuerungsbewegung, ist Burkhard Weitz überzeugt: "Das Singen war schon früh ein Markenzeichen der Lutherischen und hat die Reformation zu einer singenden Bewegung gemacht".
Dieter Falk geht noch weiter: "Es gibt ein berühmtes Zitat von Martin Luther King (1929 - 1968), dem US-amerikanischen Bürgerrechtler und Namensvetter. Der hat nämlich gesagt: 'Was ich von Martin Luther gelernt habe ist: Eine Bewegung wird nur siegen, wenn sie singt.' Und die Reformation hat durch die Musik ganz sicher noch mal einen entscheidenden Schub bekommen."
Damit gehöre Luther zu den ersten, die mit der Musik, mit Liedern eine einschneidende kulturelle und religiöse Änderung bewirkt hätten, so Falk. Das eingangs erwähnte Lied "Ein feste Burg ist unser Gott", gedichtet 1529, entwickelt sich übrigens zum Triumphlied der Reformation.
Luthers Lieder heute
Alle 37 bekannten Lieder Luthers gehören bis heute zum Kernbestand evangelischer Liederbücher. Er ist noch immer der am stärksten vertretene Liederdichter im offiziellen Evangelischen Gesangbuch - auch wenn nur noch wenige davon regelmäßig gesungen werden.
Dazu, dass Martin Luther auch als Texter und Komponist nicht vergessen wird, tragen im Gedenkjahr der Reformation etliche Musikproduktionen bei. Einen außergewöhnlichen Beitrag leistet Dieter Falk derzeit: Im Reformationsjahr 2017 tourt er mit dem von ihm komponierten Luther-Oratorium durch Deutschland und sorgt für volle Hallen. "Selbstverständlich habe ich auch Luther-Choräle mit verarbeitet. Ich habe sie neu arrangiert, in die aktuellen popmusikalische Sprache umgesetzt."
Der Reformator würde vermutlich seine Freude daran haben, denn wie sagte er doch: "Musica ist das beste Labsal eines betrübten Menschen, dadurch das Herze wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird."
TV-Thementag: 500 Jahre Reformation. Alles rund um Martin Luther und die Reformation am 31.10.2017 einen ganzen Tag lang bei DW Deutsch und in unserem Online-Special auf dw.com/kultur. Beginn 6 Uhr UTC (7 Uhr MEZ). Livestream: http://www.dw.com/de/media-center/live-tv/s-100817