Nacktheit, Blut und Schmerz: Marina Abramović in London
24. September 2023Die britische Royal Academy of Arts feiert die legendäre serbische Performance-Künstlerin Marina Abramović in einer großen Ausstellung. Es handelt sich um die erste Retrospektive, die einer Künstlerin in der Geschichte der Institution gewidmet ist.
Die Ausstellung greift Abramovićs künstlerisches Erbe auf, indem Skulpturen, Videos, Installationen und Performance von ihr gezeigt und teilweise durch eine neue Generation von Künstlerinnen und Künstlern neu inszeniert werden.
Absolute Freiheit durch Performance
Geboren wurde Marina Abramović am 30. November 1946 in Belgrad, wo sie in den 1970er-Jahren an der Staatlichen Kunsthochschule Malerei studierte. "Ich spüre deutlich, dass ich vom Balkan komme. Wir machen aus allem ein großes Drama. Entweder aus persönlichen Lebensereignissen oder aber aus dem ganz grundsätzlichen Drama des menschlichen Daseins." Diese Energie und die damit verbundenen Emotionen kommen in Abramovićs Kunst intensiv zum Ausdruck. Ihre Performances provozieren, machen aggressiv, wühlen auf, beruhigen, rühren zu Tränen - kalt lassen sie wohl die Wenigsten.
Begonnen hatte Marina Abramović ihr Werk mit extremen körperlichen Erfahrungen - eine Qual sowohl für sie als auch für die Zuschauer. Mit 26 Jahren stach sie sich bei einer ihrer ersten Arbeiten zwischen die Finger der linken Hand. Dass sie sich dabei verletzten würde, kalkulierte sie mit ein, mit jedem Stich in den Finger wechselte sie das Messer. "Wie beim Russischen Roulette geht es um Mut, Leichtsinn, Verzweiflung und Düsterkeit", erzählt Marina Abramović in ihrer 2018 auf Deutsch erschienen Autobiografie "Durch Mauern gehen". Wichtig sei "die andere Seite". "Wenn du das alles überstanden hast, ist die Freude unbeschreiblich. Genau dafür lebe ich." Nichts sei einfacher, als Dinge zu tun, die man gerne tut. Doch das wirkliche Erleben sei das eben nicht.
Marina Abramović: verstörende, selbstzerstörerische Kunst
Nach dem Messerstechen folgten viele weitere verstörende Arbeiten. In ihrer Performance "Art Must be Beautiful" kämmte sie sich 1975 mit einer Metallbürste und einem Metallkamm gewaltsam die Haare. "Während ich dies mache, wiederhole ich solange 'Art must be beautiful', 'Artist must be beautiful', bis ich mein Haar und Gesicht zerstört habe", erklärte sie ihre Vorgehensweise.
Ein Jahr zuvor legte sie sich für ihre Performance "Rhythm 5" in einen brennenden übergroßen kommunistischen Stern, ihre Haare und Nägel hatte sie abgeschnitten und verbrannt. Doch das Feuer hatte den ganzen Sauerstoff verbraucht, Abramović wurde ohnmächtig: "Die Zuschauer reagieren nicht, weil ich liege. Als eine Flamme mein Bein berührt und ich immer noch nicht reagiere, betreten zwei der Zuschauer den Stern und tragen mich hinaus. Ich werde mit den Grenzen meines Körpers konfrontiert, die Performance wird unterbrochen."
Performance endet in Tumult
Die direkte Konfrontation mit dem Publikum hatte sie bereits 1974 mit "Rhythm 0" zur Legende gemacht. In einer Galerie legte sie 72 Gegenstände vor sich, darunter eine Säge, Nägel, Alkohol, Streichhölzer, Lippenstift und sogar eine geladene Pistole. Mit einem Hinweis forderte die damals 27-Jährige das Publikum auf, sechs Stunden lang mit ihr zu machen, was es wollte. Eine intensive Performance, bei der manche Besucher die junge Frau verletzten, sie beschmierten und die Kleidung zerschnitten, andere hingegen versuchten, sie zu beschützen.
1975 lernte sie den deutschen Künstler Ulay kennen. In ihrer zwölfjährigen Beziehung loteten die beiden gemeinsam die Grenzen ihrer Körper aus, "eine romantische und radikale Zeit", sagte Abramović im DW-Interview. Im Vordergrund habe ihre Liebe gestanden, danach die Kunst. Die ersten Performances bestanden aus dem Aufeinanderprallen ihrer nackten Körper, erzählten eindrucksvoll von Verlangen und Abgrenzung. In einer späteren Installation ohrfeigten sich die beiden 20 Minuten lang, dabei sei es um den Klang gegangen, den eine Ohrfeige erzeuge, der Körper sei hier nur ein Instrument.
Viele Jahre lebten sie wie Nomaden, reisten zu den Aborigines und Tibetern. Die beiden exzentrischen Künstler trennten sich schließlich. Ihre ursprüngliche Performance, bei der sie 2500 Kilometer auf der Chinesischen Mauer aufeinander zulaufen wollten, um dann zu heiraten, wurde nach der langen Vorbereitungszeit schließlich zur Trennungsperformance.
Bahnbrechende Kunst des Stillsitzens
Wer meinte, Abramović hätte schon alle Grenzen der Performance-Kunst überschritten, wurde bald mit der Performance "The Artist is Present" überrascht. Anlässlich der großen Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) nahm Marina Abramović die Aussage wörtlich: Die Künstlerin war anwesend. 75 Tage lang saß sie sieben Stunden täglich auf einem einfachen Holzstuhl, den sie weder zum Essen noch zum Toilettengang verließ, möglich nur durch eine strenge Diät.
Ihr gegenüber stand ein leerer Stuhl, der jedoch während der gesamten Schau nie leer blieb. Besucher setzten sich der Ikone gegenüber, schauten ihr in die Augen, lachten, weinten, darunter auch Prominente wie Sharon Stone, Tilda Swinton, Björk oder Lady Gaga. Ein einziges Mal brach sie ihre Reglosigkeit, nämlich als ihr früherer Partner Ulay ihr gegenüber Platz nahm.
Die Abramović-Methode
Marina Abramović hat seit den 1990er-Jahren viele junge Performancekünstler in den verschiedensten Institutionen unterrichtet. Ihre Methoden hat sie in der "Abramović-Methode" zusammengefasst, einer Sammlung von verschiedenen Entspannungs-, Meditations- und Konzentrationsübungen.
Sie wolle die Techniken vermitteln, die es ihr während der Performances ermöglichen, Grenzerfahrungen durchzustehen, sagt die Künstlerin. Im "Marina Abramović Institute" können auch zahlende Privatpersonen in fünftägigen Workshops ihre spezielle Methode kennenlernen. Damit reduziere sich Abramović zur Society-Schamanin, monieren ihre Kritiker.
Naserümpfend wurde teilweise auch ihr Crowdfunding für ein Performance-Art-Zentrum in Hudson im Bundesstaat New York bewertet. 31 Millionen Dollar hätte der von Rem Koolhaas entworfene Neubau kosten sollen, zu viel für Abramović, sie gab das Projekt auf. Sie habe akzeptiert, sagte sie 2017 gegenüber der Monatszeitschrift "The Art Newspaper", dass diese immaterielle Kunstform auch ein immaterielles Zentrum habe: "Wenn uns Institutionen einladen, arbeiten wir einfach dort."
Geteiltes Echo: mal gefeiert, mal verrissen
In den vergangenen Jahren wagte Marina Abramović mehrere Experimente, auch im Grenzbereich von Musik, Theater, Film und Performancekunst: So konnten Neugierige 2019 die Abramović-Methode bei ihrem Projekt "Anders hören" in der Frankfurter Oper selbst ausprobieren. Nach achtstündiger Vorarbeit mit der Methode sollten sie besonders sensibilisiert in eine vierstündige Musikvorführung gehen. Die Kritiken fielen sehr unterschiedlich aus.
Ähnlich ambivalent wurde auch ihr wegen der Corona-Pandemie mehrmals verschobenen Opern-Projekt "7 Deaths of Maria Callas" aufgenommen. Das auch in Berlin gezeigte Werk wurde in München verrissen und in Paris gefeiert. Mit der griechischstämmigen Star-Sopranistin Callas eint die jetzt 76-jährige Abramović nicht nur eine markante Nase sondern auch ein untrügliches Gespür für das Dramatische.
Ihr Wirken und Schaffen ist weiterhin präsent. Auf ihre Pina-Bausch-Professur an der Folkwang-Universität der Künste in Essen, die im Sommer 2022 begann und mit der Abschlusspräsentation Anfang Juli 2023 endete, folgt nun die große Retrospektive in London.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines früheren Porträts, das erstmals am 29.11.2016 erschien.