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PolitikEuropa

Nur ein Traum? Macrons Vision für Europa

15. April 2023

Emmanuel Macrons Äußerungen zu Taiwan sorgten nicht nur für Aufregung, sie lenkten die Aufmerksamkeit auch auf ein Lieblingsthema des französischen Präsidenten: Europas Souveränität.

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Der französische Präsident Emmanuel Macron vor einer chinesischen Flagge
Emmanuel Macron erhält Kritik für seine Aussagen zu TaiwanBild: LUDOVIC MARIN/AFP/Getty Images

Mit viel Elan stellte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor sechs Jahren seine Vision für Europa vor. In einer Rede an der Sorbonne in Paris sprach er damals von einem demokratischen, geeinten, vor allem aber von einem souveränen Europa. An seiner Forderung nach europäischer Souveränität hält Macron bis heute fest. Das Konzept bedeutet im Wesentlichen die Fähigkeit, in strategisch wichtigen Bereichen autonom und unabhängig von anderen Ländern zu handeln, wie ein Think Tank des EU-Parlaments erklärt.

Über seine Vision für Europa hat der französische Präsident auf dem Rückflug von seiner China-Reise vor wenigen Tagen auch mit der internationalen Presse gesprochen. Dabei sorgte er vor allem mit seinen Äußerungen zu Europas Rolle im Taiwan-Konflikt für Irritationen in den USA als auch in Europa. Seine Worte wurden als Aufruf an die EU verstanden, eine unabhängigere Rolle gegenüber den USA einzunehmen und als Warnung, sich nicht wegen Taiwan in eine Krise hineinziehen zu lassen.

Bei einer Rede in Den Haag Anfang dieser Woche bekräftigte der französische Präsident ein weiteres Mal seine Forderung nach einem souveränen Europa. Diesmal legte er den Schwerpunkt auf die wirtschaftlichen Aspekte einer strategischen Autonomie. Laut Macron müsse die europäische Industrie unabhängiger werden und die Produktion in der EU gestärkt werden. Doch sind seine Ideen wirklich umsetzbar?

Eine grüne Wirtschaft in Europa ist nur mit China möglich

Macrons Modell der wirtschaftlichen Souveränität baut auf fünf Pfeilern auf: Wettbewerbsfähigkeit, Industriepolitik, Schutz der Märkte, Gegenseitigkeit in den Handelsbeziehungen und Kooperation. Die Länder der EU sollen weiterhin wettbewerbsfähige, erstklassige Produkte herstellen und dabei innerhalb des Blocks eng zusammenarbeiten. Um die Märkte in Bereichen wie Klimaneutralität oder der Produktion von Mikrochips zu schützen, ist laut Macron eine gemeinsame Industriepolitik erforderlich.

Der französische Präsident ist zudem überzeugt, dass kritische Technologien, die benötigt werden, um die europäischen Klimaziele zu erreichen, in der EU produziert werden sollten. Gegenwärtig werden diese Technologien jedoch in China hergestellt, sagt Carme Colomina, Wissenschaftlerin am öffentlich finanzierten "Barcelona Centre for International Affairs", im Gespräch mit der DW. Auch die seltenen Erden, die für einen Übergang zu einer digitalen und grünen Wirtschaft benötigt werden, kommen aus China. Was den Klimawandel betrifft, sei die EU also abhängig von China, so Colomina.

Mongolei Mine zur Gewinnung von seltenen Erden
Seltene Erden sind für die Herstellung zahlreicher elektronischer Produkte unverzichtbarBild: imago stock&people

Das will die EU-Kommission ändern und hat Vorschläge für ein neues Gesetz eingebracht, das die Versorgung der EU mit kritischen Rohstoffen sichern soll. Zu den betroffenen Rohstoffen zählen seltene Erden, die für die Magneten in Windrädern benötigt werden, ebenso wie Lithium, Kobalt und Nickel für Batterien und Silikone für Halbleiter. Die Vorschläge der Kommission werden bereits im EU-Parlament und in den Mitgliedsstaaten der EU diskutiert. Colomina hat jedoch Zweifel, ob ein solches Gesetz schnell genug umgesetzt werden kann, um wirklich wirksam zu sein. Denn es kommt zu einem Zeitpunkt, an dem "bereits Abhängigkeiten aufgebaut werden".

Die Sicherheit Europas hängt an den USA

Die Idee der strategischen Autonomie hat auch eine sicherheitspolitische Dimension. Seit 2017 setzt sich Emmanuel Macron für eine gemeinsame EU-Eingreiftruppe, einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt und eine gemeinsame Handlungsdoktrin ein.

Im März vergangenen Jahres, einen Monat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, griffen auch andere führende europäische Politiker die Idee der europäischen Souveränität verstärkt auf. Sie erklärten ihre Absicht, ihre Verteidigungskapazitäten zu stärken, ihre Fähigkeit zum autonomen Handeln zu verbessern, während sie gleichzeitig ihre NATO-Verpflichtungen in vollem Umfang erfüllen. Seit Beginn des Krieges haben die EU-Staaten ihre Verteidigungsausgaben erhöht und die Ukraine mit Waffen und Munition unterstützt.

Stapel von Munition bei Artilleriestellung nahe Bachmut
Die EU-Staaten unterstützen die Ukraine mit Waffen und MunitionBild: Narciso Contreras/AA/picture alliance

Laut Colomina ist Emmanuel Macron einer der stärksten Verfechter der Idee einer engeren Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich. Für ihn sei die europäische Souveränität ein Mittel, das es der EU ermöglicht, ihren eigenen Weg zu gehen.

Benjamin Tallis von der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik" (DGAP) hält dies jedoch nicht für realistisch. Für Tallis ist der Begriff der Autonomie in den internationalen Beziehungen ist in seinen Augen ein "Mythos". Was Macron wirklich meine, sei "mehr Unabhängigkeit von den USA".

Für den Kontinent sei das gefährlich, so Tallis: "Europa fehlt nicht nur die Fähigkeit, sich zu verteidigen, sondern auch, sich auf der Welt in der Weise zu behaupten, wie es Macrons Plan einer strategischen Autonomie nahelegt." Auf dem Papier verfüge Europa über eine beeindruckende Zahl an Panzern und Soldaten, doch es fehle an den strategischen Voraussetzungen, um sie im Falle eines Alleingangs in Stellung zu bringen. Tallis verweist auch auf das große Atomwaffenarsenal der USA, das dem Block stets als Sicherheitsgarantie für den Ernstfall und zur Abschreckung anderer Atommächte gedient hat.

Es fehlt eine europäische Weltsicht

Unmittelbar nach Macrons Äußerungen, fragten mehrere Politiker weltweit – allen voran Marco Rubio, ein ehemalige US-Präsidentschaftskandidat und republikanische Senator für Florida – offen, ob Macron im Namen der Europäischen Union gesprochen habe.

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki bekräftigte noch vor einer Reise in die USA, dass die Allianz mit den USA ein "absoluter Grundpfeiler" der Europäischen Union sei. Die EU-Kommission lehnte es bisher ab, die Äußerungen Macrons zu Taiwan zu kommentieren.

Polen Mateusz Morawiecki
Polens Ministerpräsident Morawiecki sieht die USA als Grundpfeiler der Europäischen UnionBild: Piotr Nowak/PAP/picture alliance

Macron spreche sicherlich nicht für Europa, ist Tallis überzeugt. Das grundlegende Problem an der Idee einer strategischen europäischen Autonomie liegt seiner Meinung nach darin, dass Europa auf strategischer Ebene gar nicht existiere. Auch eine gemeinsame Weltanschauung sei nicht vorhanden.

Tallis verweist zum Beispiel auf Länder wie Finnland, Estland, die Tschechische Republik und Polen, die den systemischen Wettbewerb zwischen Autokratien und Demokratien seiner Ansicht nach sogar noch verstärken wollen. Bundeskanzler Olaf Scholz etwa wolle an "der Welt von gestern" festhalten, an der Welt, die vor dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine bestand. Er versuche, ein globales Handelssystem aufrechtzuerhalten, zu dem auch China gehört. Macron hingegen scheine Frankreich als Großmacht positionieren zu wollen, indem er auch Europa als Großmacht positioniert - um dann so zu tun, als seien Frankreichs Interessen die gleichen wie die Europas.

Letztlich, so Tallis, untergrabe Macrons Plan Europa aber strategisch und spalte seine Mitglieder weiter. Laut Colomina bestehe schon lange ein Graben zwischen den Europäern, die für mehr Europa eintreten und den Atlantikern, die eine engere Bindung an die USA befürworten. Das Dilemma liege im Kern der EU, und es sei klar, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis es wieder auftauchen würde.

Emmanuel Macron scheint sich ebenfalls bewusst zu sein, dass er in Sachen strategischer Autonomie möglicherweise nicht zum Zuge kommt. Er schloss seine Rede in Den Haag mit den Worten: "Ich bin ein Träumer".

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

DW Mitarbeiterin Lucia Schulten
Lucia Schulten Korrespondentin in Brüssel
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