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Sind deutsche Theater sichere Arbeitsorte?

Elliot Douglas
12. Juli 2023

Laut einer Umfrage der ARD unter deutschen Theaterschaffenden haben 90 Prozent der Befragten Erfahrungen mit Machtmissbrauch gemacht. Doch ist die Umfrage zuverlässig? Und: Können Verhaltenskodizes etwas bewirken?

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Fotoprobe "Krieg" im Berliner Ensemble
Fotoprobe für das Theaterstück "Krieg" im Berliner Ensemble (März 2018)Bild: Carsten Koall/picture alliance/dpa

Das Maxim Gorki Theater in Berlin hat den Ruf, Heimat des alternativen, politischen Theaters in der deutschen Hauptstadt zu sein. Die letzten Produktionen beschäftigten sich mit dem Kampf für die Freiheit der Frauen im Iran und brachten eine Gruppe von Künstlern "im Exil" zusammen. Doch 2021 wurde das berühmte Theater von einer dunklen Wolke überschattet: Einige der Verantwortlichen, darunter auch Intendantin Shermin Langhoff, wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätten Mobbing und Machtmissbrauch betrieben und ein "Klima der Angst" geschaffen, wie es das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" nannte.

Das Theater, wie auch andere öffentlich finanzierte Bühnen in Deutschland, versprach damals, die Vorwürfe ernst zu nehmen und wenn nötig Veränderungen herbeizuführen. Jüngste Recherchen der ARD zeigen aber: 90 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer anonymen Umfrage - darunter wohl auch ehemalige und derzeitige Mitarbeitende des Maxim Gorki Theaters - haben einen solchen Machtmissbrauch offenbar selbst erlebt. In den meisten Fällen handelte es sich demnach um Missbrauch mit Worten, es wurden aber auch mehrere Fälle von angeblichem körperlichen und sexuellen Missbrauch gemeldet.

Berlin | Maxim-Gorki-Theater
Das Maxim-Gorki-Theater in BerlinBild: J. Hildebrandt/imageBROKER/picture alliance

"Keine wissenschaftliche Studie, aber Probleme sehr real"

Die Theaterchefinnen und -chefs haben die Repräsentativität der Umfrage in Frage gestellt, da sie anonym und ohne unabhängige Überprüfung der Fakten durchgeführt worden sei. Laut Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA), der größten Gewerkschaft der deutschen Theaterbeschäftigten, seien die Probleme, die die Umfrage aufzeige, jedoch sehr real.

"Wir nehmen die Umfrage sehr ernst. Um es klar zu sagen: Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Studie, die Umfrage selbst stellt ihre Ergebnisse ausdrücklich als nicht repräsentativ dar. Das macht sie aber nicht weniger aussagekräftig", so Lauren Schubbe, Gewerkschaftssekretär der GDBA, gegenüber der DW. "Die Recherchen des ARD-Teams zeigen, dass hunderte von Theaterschaffenden bereit sind, sich die Zeit zu nehmen und das Bedürfnis haben, über ihre Erfahrungen mit Machtmissbrauch an Theatern zu sprechen. Sie haben 400 detaillierte Berichte über konkrete Fälle hervorgebracht, von denen jeder einzelne einer zu viel ist."

Das Kohlhaas-Prinzip - Maxim Gorki Theater Berlin
Szene aus "Das Kohlhaas-Prinzip" am Maxim Gorki Theater (Mai 2015)Bild: Eventpress Hoensch/picture alliance

Als Gründe dafür, dass die Menschen jetzt vielleicht eher bereit sind, sich zum Thema Machtmissbrauch zu äußern, nennt Schubbe die #MeToo-Bewegung und die Bedingungen, die durch die COVID-Pandemie entstanden sind. "Daraus schließen wir jedoch nicht, dass es in der Vergangenheit weniger Machtmissbrauch in Theatern gegeben hat", ergänzt er. "Im Gegenteil, es gibt bereits erste Maßnahmen, um ihn einzudämmen, und zaghafte Erfolge."

Wie wirksam sind Verhaltenskodizes?

Mehrere Theater haben im Laufe des letzten Jahrzehnts in Folge des weltweiten #MeToo-Skandals Verhaltenskodizes eingeführt. Wie wirksam diese sind, lässt sich allerdings nicht wissenschaftlich exakt sagen. "Dies ist eine Situation, die nicht toleriert werden kann", sagte Claudia Schmitz in einer Stellungnahme. Sie ist die Direktorin des Deutschen Bühnenvereins (DBV), einer Organisation, die 430 deutsche Theater vertritt. "Die Frage ist, wie es weitergehen soll - und meine Antwort ist, dass der Weg, den die Bühnen seit 2018 eingeschlagen haben, konsequent fortgesetzt werden muss."

Dabei bezieht sie sich auf den wertebasierten Verhaltenskodex, dem viele deutsche Theater 2018 und dann erneut 2021 zugestimmt haben. Die Volksbühne zum Beispiel, eines der anderen großen öffentlich finanzierten Theater in Berlin, erklärte gegenüber der DW, dass "der Personalrat und die Frauenbeauftragte der Volksbühne regelmäßig zu einer Sitzung der Arbeitsgruppe Verhaltenskodex einladen. Das ist ein offenes Gremium von Mitarbeitenden der Volksbühne, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein belästigungsfreies Arbeitsumfeld zu fördern."

Eine Odyssee - Volksbuehne Berlin
Robert Kuchenbuch und Daniel Nerlich in "Eine Odyssee" an der Berliner Volksbühne (September 2019)Bild: Eventpress Hoensch/picture alliance

"Nicht nur ein Stück Papier"

Claudia Schmitz vom Deutschen Bühnenverein ist sich sicher, dass solche Programme funktionieren können: "Es ist nicht nur ein Stück Papier vom Verein, sondern eine Meinungsäußerung aller Mitglieder, auch der Theaterleiter und Intendanten, die sagen, dass wir eine Verantwortung dafür haben, dass das Theater ein angstfreier Raum ist und dass wir mit Macht so umgehen, dass es nicht zu Diskriminierung oder Verletzung kommt", so Schmitz. Eine neue Generation an der Spitze bestimmter Theater könne dazu beitragen, diese Verhaltenskodizes umzusetzen.

Solche Verhaltenskodizes seien aber "zahnlos", wenn sie nicht "durch konkrete und verbindliche Maßnahmen wie Beratungsangebote, Beschwerdeverfahren und Sanktionsmöglichkeiten flankiert werden", so Gewerkschaftsvertreter Schubbe. "Um grundlegende Verbesserungen zu erreichen, müssen wir auch hinterfragen, was Machtmissbrauch an Theatern strukturell begünstigt - und diese Strukturen dann auch verändern", fordert er.

Problem: Die Befristung der Verträge

Eines der von den Befragten angesprochenen Probleme hat mit der Dauer der Verträge zu tun. Verlängert werden diese nämlich nur alle paar Spielzeiten - was diejenigen Mitarbeiter, deren Visum und Aufenthaltsrecht an ihre Arbeit gebunden ist, anfälliger für Missbrauch macht. Aus Angst davor, ihren existenzsichernden Job zu verlieren, meldeten sie sich seltener zu Wort.

Der andauernde Streit über dieses Thema zwischen der Gewerkschaft GDBA auf Arbeitnehmer- und dem Bühnenverein auf Arbeitgeberseite hat bisher - zuletzt bei Gesprächen im Juni - zu keinem Ergebnis geführt. Wie alle Branchen der darstellenden Künste haben auch die deutschen Theater seit der Pandemie und der gestiegenen Lebenshaltungskosten Schwierigkeiten, sich zu erholen.

Information: Die DW hat zu diesem Bericht mit dem Maxim Gorki Theater Kontakt aufgenommen. Aufgrund der Sommerpause konnte das Theater allerdings keine Stellungnahme abgeben.

Adaption aus dem Englischen: Nikolas Fischer