Macht und Ohnmacht
22. Mai 2009Das Europäische Parlament, das seit 30 Jahren direkt gewählt wird, wählt keine Regierung. Deshalb gibt es auch keine Mehrheitsfraktion oder eine wirkliche Opposition wie im Bundestag oder im britischen Unterhaus. "Bei uns bilden sich die Fraktionen und Mehrheiten immer entlang der Sachfragen", sagt der deutsche SPD-Abgeordnete Klaus Hänsch. Er gehört seit 30 Jahren dem Europäischen Parlament an und war dort von 1994 bis 1997 Präsident.
Medienwirksame Dramen und das Ringen um Machterhalt bleiben in Europas Parlament aus. Die Debatten in Straßburg oder Brüssel seien oft nicht besonders sexy, glaubt auch Jacki Davis vom Politik-Forschungsinstitut "European Policy Centre" in der belgischen Hauptstadt. Trotzdem sei das Europäische Parlament sehr wichtig, sagt Davis, weil die Parlamentarier enorme Macht hätten.
Bei rund 80 Prozent aller europäischen Gesetze und Richtlinien haben die Abgeordneten das Recht, mitzubestimmen. Schätzungsweise 30 bis 50 Prozent aller Gesetze, die in den Mitgliedsstaaten wirken, werden inzwischen direkt vom Europäischen Parlament mitbestimmt. Die Wirkung der Gesetzgebung auf das tägliche Leben von 500 Millionen EU-Bürgern ist groß, auch wenn das vielen Wählern nicht klar sein mag.
Immer mehr Rechte - aber noch nicht genug
Das Europäische Parlament ist nur eine von zwei Kammern in der europäischen Gesetzgebung. Die Parlamentarier teilen sich die Macht mit dem Ministerrat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind. Beide Kammern stimmen über Vorlagen ab, die die Europäische Kommission, die Verwaltung in Brüssel, erarbeitet. Das Recht eigene Gesetzentwürfe vorzulegen, hat das Europäische Parlament im Gegensatz zu vielen nationalen Parlamenten nicht.
"Mit jedem Vertrag - von Maastricht über Amsterdam nach Nizza - hat das Parlament immer neue Rechte und Politikbereiche bekommen", sagt Davis. Heutzutage seien nur noch die Agrarpolitik, die Außenpolitik, die Justizpolitik und die Gesundheitsvorsorge von der Mitbestimmung durch das Parlament ausgeschlossen.
Europawahl ist wichtig - trotz aller Probleme
Für den kritisch eingestellten Abgeordneten Hans-Peter Martin, der keiner Fraktion angehört, hat das Parlament jedoch immer noch zu wenig Rechte. Lobbyisten und Bürokraten würden viele Entscheidungen beeinflussen. Das Parlament hat zum Beispiel keinen eigenen wissenschaftlichen Dienst, um Entscheidungen der Abgeordneten gründlich vorzubereiten.
Deshalb sind die Parlamentarier oft auf den Sachverstand von Lobbyisten und Interessenvertretern angewiesen. Trotz der Defizite sei es wichtig zur Wahl zu gehen, glaubt Martin. Denn schließlich sei das Europäische Parlament die einzige Institution, die in der EU direkt demokratisch legitimiert ist.
Die Abgeordneten: Wenig Zeit, sich Gehör zu verschaffen
Der einzelne Abgeordnete hat im Europäischen Parlament, verglichen mit den Parlamenten zuhause, weniger Einfluss. Das liegt vor allem an der Größe der Kammer: 785 Abgeordnete aus 27 Mitgliedsstaaten arbeiten in Straßburg. Sie sind in sieben Fraktionen unterteilt, die sich noch einmal nach Ländergruppen sortieren. Die größten Gruppen sind die Konservativen, die Sozialisten und die Liberalen.
Die Zahl der Abgeordneten hat sich seit der Gründung des Parlaments Anfang der 1950er-Jahre verzehnfacht. Große Chancen in der Öffentlichkeit mit einer Parlamentsrede aufzufallen haben die normalen Abgeordneten auch nicht. Ihre Redezeit ist in den Debatten meist auf eine Minute begrenzt.
Autor: Bernd Riegert / Euranet
Redaktion: Nicole Scherschun / Kay-Alexander Scholz