Macht und Mythos des Kreml
11. April 2022Seine zinnenbewehrten Mauern ragen über den Fluss Moskwa. Die goldenen Kuppeln der Kathedralen leuchten. Der Rote Platz erschließt die Flanke des Kreml. Das Gebäudeensemble besticht nicht nur durch ein imposantes Erscheinungsbild. Seit jeher ist der Kreml ein Kristallisationspunkt russischer Geschichte - und der Sitz russischer Herrscher. Mehr noch: "Der Kreml ist die Verkörperung Russlands", sagt die britische Historikerin Catherine Merridale, "er steht für die staatliche Macht."
Als Russlands Präsident Putin noch vor Beginn des Ukraine-Krieges seine Gesprächspartner zur Krisendiplomatie empfing, staunte die Welt nicht schlecht: Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fanden sich unvermittelt am Ende eines ellenlangen, weißen Tisches wieder. Der Kreml-Herr hielt seine Gäste auf Distanz. Eine Machtdemonstration? Oder eine Infektionsschutzmaßnahme?
Die Geste passte jedenfalls zu diesem Ort: "Der Kreml", so Merridale kürzlich in einem Interview der Süddeutschen Zeitung, "ist auch ein großes Blendwerk, ein grandioses Theater."
Kremls Geschichte "in Echtzeit" erlebt
Die britische Historikerin gilt als gute Russlandkennerin. Mit "Red Fortress" (Rote Festung) schrieb sie 2014 ein vielbeachtetes Buch über "500 Jahre Herrschaft und Macht im Kreml, von Iwan dem Schrecklichen bis Wladimir Putin" (auf Deutsch: "Der Kreml", erschienen 2015 bei Fischer). Merridale lehrte an britischen Universitäten russische Geschichte. Bereits als junge Wissenschaftlerin in den 1980er-Jahren recherchierte sie im Kreml. Glasnost und Perestroika katapultieren das ehemalige Sowjetreich damals in eine neue Zeit. Sie wollte die Vergangenheit studieren, erinnert sich Merridale, doch habe es sich angefühlt wie "Geschichte in Echtzeit".
Von beeindruckender Größe ist der Kreml, ein geradezu majestätischer Ort. Der Zweck der zaristischen Kreml-Paläste war von Beginn an ganz simpel: Alles sollte größer und imposanter sein als in Europa, eine Architektur der Einschüchterung. Diese Wirkung weiß - ebenso wie seine Vorgänger - auch der aktuelle Kreml-Herrscher Putin für sich zu nutzen. Verdiente Bürger, von denen die meisten in kleinen Wohnungen leben, empfängt Putin schon mal zu Ordensverleihungen. "Wenn sie dann die glanzvollen Säle im Kreml erleben, die Kronleuchter, könnte der Kontrast nicht größer sein", sagt Merridale: "Man soll staunen."
Der Kreml - "Requisite für Tyrannen"
Zum Staunen bringt auch, was aus der einst hölzernen Festung wurde, die der - heute als Moskau-Gründer geltende - Großfürst Juri Dolgoruki vor bald 900 Jahren auf einem Hügel an einem Fluss in einem fast undurchdringlichen Wald errichten ließ - die Hauptstadt eines mächtigen Staates. Zwar verlegte Zar Peter der Große (1672-1725) seinen Regierungssitz ins neue Sankt Petersburg an der Ostsee. Doch verlor der Kreml - auch dank zahlreicher Krönungen und nationaler Feierlichkeiten - für die Herrschenden nie seine Anziehungskraft.
Ein "satanisches Monument", eine "Requisite für Tyrannen" sah dagegen der französische Reiseschriftsteller und Diplomat Marquis Astolphe de Custine in dem Moskauer Gebäudekomplex. Custine hatte im Sommer 1839 eine längere Reise nach Russland unternommen. In seinen Aufzeichnungen "La Russie en 1839" entwarf er ein negatives Russlandbild. So versuchte er sich etwa auch in einer Typologie russischer Mentalität: "Die Despotie unterdrückt die freie Entfaltung der Menschen", schrieb der Marquis, "alle sind Knechte und gerade Fremden gegenüber werden sie vorsichtig und geheimniskrämerisch."
Kreml als "satanisches Moment"
Seine Beobachtungen erklärte sich Custine mit der Geschichte Russlands: "Peter I. und Katharina II. haben der Welt eine große und nützliche Lehre gegeben, welche Russland bezahlen musste; sie zeigten uns, dass der Despotismus nie mehr zu fürchten ist, als wenn er Gutes schaffen will, denn dann glaubt er seine empörendsten Handlungen durch seine Absichten rechtfertigen zu können, und das Schlechte, das sich als Heilmittel ausgibt, hat keine Grenzen mehr."
Hätte Custine über Putins Ukraine-Krieg im Jahr 2022 gesprochen, sein Kommentar wäre womöglich ähnlich negativ ausgefallen. Den Kreml bewunderte der Russlandreisende gleichwohl für seine "ursprüngliche russische Bauweise", der die russischen Bedürfnisse im Blick habe und an der sich Russlands Baumeister deshalb ein Bespiel nehmen sollten.
Orthodoxe Kirche immer präsent
Politisches Machtzentrum und Ikone der russischen Kultur, für Merridale sind das nur scheinbar Gegensätze. Denn für den Zusammenhalt sorgte zu allen Zeiten die russisch-orthodoxe Kirche:
Als Folge der mongolischen Invasion ließ sich der Metropolit der Kiewer Rus - Vorläufergebilde der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus - im 14. Jahrhundert zum Einzug in den Kreml bewegen. Ein Sakralbau entstand, aus dem später die Mariä-Entschlafens-Kathedrale hervorging. Seither ist die orthodoxe Kirche im Kreml präsent und macht ihn zu einem heiligen, gottgewollten Ort. "Putin hat diese Verbindung wie kein anderer Staatschef seit den Zaren für seine Zwecke genutzt", sagt Kremlkennerin Merridale. "Er betet öffentlich, entzündet Kerzen, hält Kontakt zum Patriarchen."
Lange bleibt der Kreml Zarenresidenz. Erst 1918, der Zar ist gestürzt, die Autorität der orthodoxen Kirche gebrochen, wird die alte Festung wieder zum Zentrum der Macht. Die Bolschewiki erobern ihn. Und schon bald besinnen sich die kommunistischen Führer der Vorzüge des Kremls - als kulturelle Ikone wie als Festung, die im Bürgerkrieg Angriffe und Attentate ebenso abhält wie tödliche Pandemien: Lenin entgeht hier Cholera und Typhus, und auch der Spanischen Grippe. Er hat seine eigene Desinfektionskammer direkt neben seinen Gemächern. "Putin hat in dieser Hinsicht einiges von Lenin gelernt", sagt Kreml-Forscherin Merridale, "denn er hat panische Angst davor, sich anzustecken!"
Vorsicht lässt auch Lenin-Nachfolger Josef Stalin (1878-1953) walten: Nach dem Mord an einem Gefolgsmann igelt er sich ein. Aus Angst vor einem Attentat wirft er die alten Genossen aus dem Kreml. Stalin vertraut niemandem mehr. Die Zeit der Säuberungen und großen Schauprozesse beginnt, eine Zeit des Terrors.
Putins Einsamkeit im Kreml
Mit dem Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial unterdrücke Putin heute ganz bewusst die Erinnerung an die Verbrechen Stalins, sagt Historikerin Merridale. Der Kreml-Herrscher sehe sich in der Kontinuität der großen russischen Führer, allen voran Iwan IV., genannt Iwan der Schreckliche, und Peter des Großen, ebenfalls ein Gewaltherrscher.
Putin verachtet Gorbatschow
Für Michail Gorbatschow habe er nur Verachtung übrig. Ihn macht Putin für das Ende der Sowjetunion verantwortlich. Tatsächlich ließen Chruschtschows Tauwetter und Gorbatschows Glasnost den Kreml wieder volksnäher werden. Der eigentliche Wendepunkt kommt 1991: Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Gorbatschow und Boris Jelzin zieht Letzterer in den Kreml ein. Kurze Zeit amtieren zwei Präsidenten parallel. Doch die Sowjetunion ist Geschichte und der Kreml wieder Zentrum Russlands. Im Mai 2000 wird Putin erstmals Präsident.
Während entlang der Moskwa die goldenen Kuppeln glänzen, überragt der weiße Glockenturm Iwan der Große alle anderen Kirchen und Paläste. Über allem weht die russische Fahne. Nach außen wirkt der Kreml sehr mächtig. Doch drinnen herrsche die Gefahr sich komplett zu verlieren, so Merridale im SZ-Gespräch. "Wenn man alle Kritiker entfernt hat, ist man Gefangener seines eigenen Ichs." Die Entourage wiederhole nur noch das, was Putin hören möchte. "Er ist der am besten bewachte Mensch in Russland. So schnell werden wir ihn nicht los."