Bayerische Tradition
29. April 2012Wenn Sie an einem schönen Tag in München, sagen wir am Siegestor auf der Leopoldstraße stehen, dann können Sie ein seltsames Schauspiel beobachten: Voll bepackt mit Tüten und Taschen ziehen Menschenmassen in Richtung Englischer Garten. Die Münchener ziehen kollektiv ins Grüne. Einige wollen in die riesige Parkanlage, die von zahlreichen Bächen durchzogen ist und in denen man in der Mittagshitze prima plantschen kann.
Aber viele zieht es weiter, in den Biergarten am Chinesischen Turm. Im Biergarten rund um den pagodenförmigen Turm finden bis zu 7500 Gäste Platz – wenn man zusammenrückt, auch mehr. Dann sitzen alle dicht an dicht auf langen Holzbänken im Schatten von hohen Kastanien. Vor ihnen steht dann oft eine Maß, ein gläserner Bierkrug, der einen Liter fasst und in dieser Größe nur in Deutschlands Süden verbreitet ist.
Das tägliche Volksfest
Wer nun denkt, im Biergarten wird Bier getrunken und das war's, der wird nach kurzem Aufenthalt feststellen: Das trifft es nicht. Der Biergarten ist Treffpunkt, Tummelplatz, Tratschbörse. Kinder spielen zwischen den Bänken Verstecken, während die Eltern mit den seit einer Ewigkeit nicht gesehenen Nachbarn plaudern. Kleine Gruppen von jungen Männern schielen den hübsch aufgeputzten Mädchen hinterher. An manchen Tischen wird regelrecht gepicknickt – mitgebrachte Brote und Brezeln, Würste und Käse liegen ausgebreitet und werden über Stunden verteilt verzehrt. An anderen Tischen sitzen Männer in traditionellen bayerischen Trachten mit leicht geröteten Gesichtern vor ihren Bierkrügen und schweigen meist – sie treffen sich hier schon seit Jahren, und so viel ist seit dem letzten Mal schließlich auch nicht passiert.
Und dazwischen suchen sich vereinzelt Touristen einen Platz zwischen den engen Tischreihen, meist ein wenig überrascht ob des Trubels. Doch keine Angst, höflich fragen und sich an einen Tisch dazusetzen ist erlaubt. Das machen hier alle so.
1000 Biergärten allein in München
Um zu verstehen, weshalb die Biergärten so zentral im Leben vieler Münchener sind, muss man ein wenig ausholen. Über 1000 Biergärten gibt es heute in München, aber vor 200 Jahren war das noch anders. Da dominierten die Gasthäuser das öffentliche Leben. Doch dann änderte sich der Geschmack: Ende des 19. Jahrhunderts wurden "helle" Biere wie Pils, Lager und Export in Bayern immer beliebter. Diese Biere konnten aber nur kühl gelagert werden, weshalb viele Münchener Brauereien tiefe Keller anlegten und darüber für zusätzliche Kühle sorgende Kastanienbäume anpflanzten.
Der nächste Schritt lag nahe: Statt die Fässer zu den Gasthäusern zu bringen, führten viele Keller den Direktverkauf ein. Es dauerte nur kurze Zeit, bis die ersten Selbstversorger entdeckten, dass man das Bier ja auch gleich vor Ort trinken kann. Und dass es viel bequemer ist, wenn man dabei sitzen kann. Und die Brauereien entdeckten, dass eine simple Holzbank den Umsatz schlagartig erhöht. Der Garten des Hofbräukellers südlich der Altstadt, auf der anderen Seite der Isar, ist beispielsweise so entstanden – einer der wenigen noch erhaltenen Biergärten aus dieser wilden Zeit.
Das ganze System der Kellerbiergärten wurde so populär, dass die Gasthäuser um ihre Existenz fürchteten und König Maximilian I. sich am 4. Januar 1812 zum Eingreifen gezwungen sah. Per Dekret bestimmte er, dass die Biergärten zwar Bier, aber kein Essen verkaufen durften. Der Münchener nahm es gelassen und brachte fortan seine eigene Brotzeit mit. Die Institution Biergarten war geboren, vor 200 Jahren. Heute findet man in vielen deutschen Städten Biergärten nach dem Münchener Vorbild.
Gelebte Nachbarschaft
Der Biergarten am Chinesischen Turm ist der zweitgrößte Biergarten Münchens und der größte im Innenstadtbereich. Ob er zu den schönsten gehört oder welcher denn der schönste ist, das wird jedes Jahr in den Zeitungen ausgiebig debattiert. Der Paulaner-Biergarten am Nockherberg ist ein Kandidat, der Biergarten am Augustinerkeller oder der Hirschgarten am äußeren Ende des Englischen Gartens werden auch regelmäßig genannt. Die Lage, die Begrünung, die Anordnung der Tische – all das macht den Unterschied. Kein Garten gleicht dem anderen, behaupten viele Münchener.
Von diesen Diskussionen unberührt finden sich über ganz München verteilt viele Biergärten, die meist schon seit Generationen geliebt werden: Sie sind kleiner, werden nicht von einer der großen Brauereien betrieben, liegen fernab der Touristenrouten, aber dafür direkt in der Nachbarschaft. Hier trifft man sich spontan am Abend, und ein Ausflug hierher muss nicht aufwendig geplant werden. Um sie zu finden, muss man sich auskennen - oder ein bisschen suchen. Aber es lohnt sich.