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Lässt sich der Aufstieg von Temu stoppen?

Nicolas Martin
21. November 2024

Gefälschte Rabatte, Einfuhr illegaler Produkte: Die EU erhebt heftige Vorwürfe gegen Temu und geht gegen den Billigmarktplatz vor. Doch ist dessen Siegeszug noch aufzuhalten?

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Ein Berg voll von Temu-Paketen. In der Mitte eine EU-Flagge, die aus dem Paketberg herausragt.
Kann die EU den Aufstieg von Temu noch stoppen?Bild: DW

Wer den chinesischen Marktplatz Temu mit den Vorwürfen der EU konfrontiert, erhält genau das, was hunderttausende Kunden jeden Tag bekommen: viele kleine Päckchen. In diesem Fall viele kleine Textpäckchen, fast in der Gesamtlänge dieses Artikels. In einem davon versichert Temu der DW "uneingeschränkt mit den Regulierungsbehörden zusammenzuarbeiten."

Temu ist es gewohnt, auf Vorwürfe zu reagieren, denn die reißen nicht ab: Schon Anfang 2024 hat der Europäische Spielwarenverband in 95 Prozent der von Temu vertriebenen Kinderspielzeuge Sicherheitsrisiken entdeckt.Der Bundesverband der Verbraucherzentralen warnt bereits länger und hat die Billigplattform im Frühjahr abgemahnt.

Seit November wird der Druck nochmal größer: So hat die EU ein Verfahren gegen die Plattform eingeleitet.Die Liste der Anschuldigungen ist lang: Vor allem geht es um die illegale Einfuhr von Produkten, die nicht EU-Standards entsprechen. Aber auch um falsche Rabatte, gefälschte Bewertungen, fehlende Händlerangaben und süchtig machendes Design.

Was ist das Geschäftsmodell von Temu?

Temu gibt es in den USA seit September 2022. Die Idee war, den US-Amerikanern Zugang zu chinesischen Pro­dukten zu verschaffen. Der Marktplatz ist seitdem auf rapidem Wachstumskurs weltweit. Egal ob Zahnweißpulver, Knoblauchpresse oder Gartenschere - auf Temu gibt es tausende Artikel zu unschlagbar niedrigen Preisen. Die Artikel kommen als Päckchen - meistens direkt aus China. Schätzungen gehen davon aus, dass allein in Deutschland 400.000 Pakete täglich von Temu und dem chinesischen Modemarktplatz Sheinankommen.

Ein orangenes Paket von Temu neben einem anderen weißen Paket. Im Hintergrund das Logo von Temu.
Pakete von Temu kommen zu Tausenden in Deutschland und der EU anBild: Nikos Pekiaridis/NurPhoto/picture alliance

Die Plattform kann günstige Preise anbieten, weil sie ausschließlich als Marktplatz funktioniert. Wer bei Temu bestellt, der bekommt sein Päckchen meistens direkt aus dem Warenhaus eines Herstellers oder eines Händlers aus China. Über Temu läuft die finanzielle Abwicklung und in manchen Fällen auch der Versand. So oder so, Temu tritt nur als Vermittler auf und bekommt dafür eine Provision.

Daher kann Temu fast komplett auf Warenlager verzichten und so Kosten sparen. Das führt dann zu längeren Lieferzeiten. Doch: "Den deutlich niedrigen Preis erreicht Temu aufgrund der langen Lieferzeiten", erklärt der Onlinehandels-Experte Alexander Graf: "Die westliche E-Commerce-Branche hat offenbar zu lange auf kürzere Lieferzeiten gesetzt." Hinzu komme, laut Graf, dass Temu auf seiner App, "die Konsumenten öfter zum Shoppen verleitet." Der Erfolg gibt Temu recht: 2023 war es laut Apple die am häufigsten heruntergeladene iPhone-App des Jahres.

Und Temu macht auch dem Platzhirsch im Onlinehandel ernsthaft Konkurrenz, sagt Graf, Co-Geschäftsführer von Spryker, einer Softwareschmiede für E-Commerce: "Amazon kann mit seiner Kernplattform nur schwer gegen Temu konkurrieren." In den USA hat der Konzern deshalb die Werbeplattform "Amazon Haul" gestartet, um Temu die Stirn zu bieten. Auch hier findet sich ein buntes Angebot von vor allem sehr günstigen Artikeln mit deutlich längeren Lieferzeiten als bei Amazon.

Wer steckt hinter Temu?

Hinter der Shopping-App, die Verbraucherschützer, Amazon und die Europäische Union umtreibt, steckt der chinesische Mutterkonzern PDD Holdings, der an der Börse in den USA gelistet ist. Zur wichtigsten Kernmarke von PDD gehört die E-Commerce Plattform Pinduoduo, die dem chinesischen Milliardär Colin Huang gehört. Konkrete Zahlen zu Umsatz und Gewinn von Temu tauchen in der Bilanz der PDD Holdings nicht auf und der Konzern gibt sich verschlossen.

Colin Huang Zheng,  CEO Pinduoduo. Er spricht in ein Mikrophon vor einem roten Hintergrund.
Nur selten in der Öffentlichkeit: Colin Zheng, CEO von PinduoduoBild: VCG/Imago

Seit April 2023 betreibt Temu auch in Deutschland sein Geschäft. Doch wie viele Menschen hier für Temu arbeiten, wird nicht verraten. "Als Teil der an der NASDAQ notierten PDD Holdings legt Temu keine separaten Finanz- oder Betriebskennzahlen offen", schreibt ein Unternehmenssprecher der DW.

Temu bleibt gelassen

Nach der Online-Einzelhandelsplattform Aliexpress hat die EU nun das zweite Verfahren gegen eine chinesische E-Commerce-Plattform eröffnet. Die EU kann das, weil sie Temu als sogenannte "große Plattform" eingestuft hat. Dazu zählen alle Plattformen, die nach eigenen Angaben mehr als 45 Millionen Nutzer haben. Sie fallen unter den sogenannten Digital Services Act (DSA) und auf dieser Basis wird nun das Verfahren eröffnet.

Bis Anfang Dezember hat Temu nun Zeit nachzuschärfen. Sollte das nicht geschehen, muss die Plattform mit hohen Geldbußen rechnen. Gegenüber der DW bekräftigt Temu: "Wir werden bei dieser Untersuchung in vollem Umfang kooperieren." Man glaube, dass die Untersuchung letztlich "den Verbrauchern, den Händlern und der Plattform auf lange Sicht zugutekommen wird", so ein Temu-Unternehmenssprecher.

Erfolg durch Steuertricks?

Doch Kritiker sehen noch ein großes Problem an einer ganz anderen Stelle. Waren unter 150 Euro können zollfrei in die EU eingeführt werden. Der Steuerexperte Roger Gothmann geht davon aus, dass das Geschäftsmodell des Marktplatzes auch auf dieser sogenannten Zollfreigrenze basiert: "Ein Großteil der Warenkörbe auf Temu bleibt unter 150 Euro." Ohne die Zollgrenze könnte Temu gar nicht so günstige Preise anbieten.

Das könnte auch das Wachstum von Temu bremsen, so Gothmann. Der Steuerexperte ist Geschäftsführer von Taxdoo, einem Abwicklungssystem für E-Commerce. Er geht davon aus, dass Temu sogar gezielt Warenkörbe aufteilt "um auch bei größeren Bestellungen unter der Zollfreigrenze zu bleiben." Stichproben des Zolls würden diese Vorgehensweise bestätigen.

Trotz der Zollfreigrenze fällt eine sogenannte Einfuhrumsatzsteuer an. Temu ist in Irland registriert. Die Plattform muss dort die anfallenden Umsatzsteuern anmelden und bezahlen. Irland verteilt sie dann theoretisch an die EU-Staaten weiter. Zum Beispiel nach Deutschland.

Datenhub in der EU?

Doch ein Datenaustausch ist aufwendig und findet kaum statt, kritisiert Roger Gothmann. Er plädiert deshalb für eine effektivere Kontrolle von Marktplätzen wie Temu und die Anwendung bereits existierender Gesetze. Auch die gezielte Aufrüstung der Behörden mit modernen Analysetools könnte weiterhelfen.

Temu hingegen widerspricht solchen Darstellungen: "Das Wachstum hängt nicht von der Zollfreiheit ab", heißt es. Auch würden keine Pakete aufgeteilt, um Zollkontrollen zu umgehen.

Der EU-Kommission ist die Zollfreiheit schon länger ein Dorn im Auge. Sie schlägt vor, die Zollfreigrenze bis 2028 abzuschaffen und einen EU-Datenhub zu errichten, um alle relevanten Zolldaten zusammenzuführen.

Der Druck auf den Marktplatz nimmt also auf allen Ebenen zu. Der E-Commerce-Experte Alexander Graf geht aber nicht davon aus, dass der Siegeszug von Temu noch aufzuhalten ist. Er verweist auf den Erfolg der Muttergesellschaft Pinduoduo. Die habe "innerhalb von fünf Jahren den bestehenden Plattformen in Asien den Schneid abgekauft." So oder so müsse man sich auf das neue Geschäftsmodell von Temu einstellen. Die Anzahl an Päckchen aus China wird also wohl kaum abnehmen.