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Luschniki: Die verdrängte Katastrophe

Ronny Blaschke
13. Juli 2018

Das dunkelste Kapitel des WM-Finalstadions wurde lange verschwiegen: Bei einer Massenpanik kamen 1982 mindestens 66 Menschen ums Leben. Die sowjetischen Sicherheitskräfte gingen danach noch härter gegen junge Fans vor.

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WM 2018 - Luschniki-Stadion
Bild: picture-alliance/dpa/J.Kalaene

Es hatte geschneit, die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gefallen, an diesem 20. Oktober 1982. Rund 10.000 Zuschauer wollten sich das Uefa-Pokal-Heimspiel von Spartak Moskau gegen den niederländischen Klub HFC Haarlem trotzdem nicht entgehen lassen. Die Miliz hatte das Publikum auf eine einzige Tribüne gedrängt. So konnte sie die "zügellosen, kapitalistischen Praktiken" der Fans besser beobachten. Der Boden war glatt, die Geländer vereist. Am Ende des Tages waren 66 Menschen tot, mindestens, andere Berichte gehen von bis zu 340 Opfern aus.

Im kollektiven Gedächtnis des europäischen Fußballs sind einige Begriffe untrennbar mit Katastrophen verbunden. Heysel zum Beispiel: Im Stadion von Brüssel kamen 1985 bei einer Massenpanik vor dem Finale des Landesmeistercups 39 Menschen ums Leben. Oder Hillsborough: 96 Menschen starben während eines Pokalhalbfinales in Sheffield. Doch die Katastrophe 1982 im Lenin-Stadion von Moskau ist kaum bekannt. Seit 1992 ist die Arena nach dem Stadtteil Luschniki benannt, am Sonntagist sie Schauplatz des WM-Endspiels. Höchste Zeit also, um an ihr dunkelstes Kapitel zu erinnern.

Fanschals aus roten Pioniertüchern

Man muss einige Jahre weiter zurückgehen, um die politische Dimension der Tragödie zu erfassen. Eine Fankultur nach westeuropäischem Vorbild entstand in der Sowjetunion relativ spät. Die Niederlage von Dynamo Moskau im Finale des Europapokals 1972 war fast besiegelt, als Fans des Gegners Glasgow Rangers den Rasen stürmten, mit Flaggen und Fanschals. Millionen Fernsehzuschauer in der UdSSR erhielten einen ersten Eindruck von einer farbenfrohen und lautstarken Fankultur. "Die britische Szene war weltweit Vorbild", sagt Hardy Grüne, Fanforscher und Hersausgeber des Magazins "Zeitspiel". "Wir haben alle bei denen abgeschaut."

Archiv Russland Fußballfans mit bengalischen Feuern
Bild: picture-alliance/dpa/A. Densiov

Ab Mitte der 1970er Jahre etablierten sich Fanszenen vor allem bei den Moskauer Vereinen. Anhänger von Spartak fertigten ihre Schals zum Teil aus den roten Pioniertüchern und trugen diese auch in Schulen oder Straßenbahnen. Doch der Einparteienstaat sah in den Fans bald eine Bedrohung: wegen ihrer undurchsichtigen Hierarchien, hemmungslosen Emotionen, mitunter wegen ihrer Schlägereien und Schmährufe. Und das in einer angespannten Zeit: nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979, dem westlichen Olympia-Boykott 1980 in Moskau, dem Aufkommen der Demokratiebewegung um Solidarność in Polen.

Leichen vor dem Lenin-Denkmal

Gruppen, die nicht der Einheitsnorm entsprachen, mussten mit Repression rechnen, auch Fans wegen ihrer "westlich-bourgeoisen Subversion". Das Mindestalter für Stadionbesucher wurde auf 16 angehoben, Flaggen und Schals verboten. Wer dagegen verstieß, musste mit einer Festnahme rechnen – und mit dem Verlust von Arbeitsplatz, Ausbildung oder Studium. "Fankultur ist immer auch Jugendkultur, es geht um das Ausloten von Grenzen", sagt Hardy Grüne. "Doch in der Sowjetunion hatte man Angst, dass in den Stadien politischer Protest entstehen könnte."

An jenem Oktobertag 1982 zeigten Fans im Lenin-Stadion verbotene Schals und Mützen, andere tranken Alkohol, es kam zu Auseinandersetzungen. Die Ordnungskräfte ließen nur einen Ausgang offen, um Fans später leichter festnehmen zu können. In der Nachspielzeit fiel das 2:0 für Spartak. Zuschauer, die schon den Ausgang erreicht hatten, eilten zurück, auf einer schmalen Treppe. Das Stahlgeländer brach zusammen, Menschen stürzten auf Beton, es entstand eine Massenpanik. Die meisten Opfer waren zwischen 14 und 19 Jahre alt, mehr als 500 Menschen wurden verletzt. Die Miliz legte die Leichen vor dem Lenin-Denkmal ab, das Stadion wurde abgeriegelt.

Die Trauernden wurden durch den KGB beschattet

Nur die Zeitung "Wetschernaja Moskwa" schrieb beiläufig über einen unglücklichen Vorfall: "Während des Fußballspiels im Luschniki-Stadion hat es einen Unfall gegeben. Unter den Zuschauer gab es einige Verletzte." Die staatliche Zensur hielt Details zurück, berichtet Manfred Zeller. Der Osteuropa-Historiker hat die sowjetische Fankultur erforscht und interne Dokumente studiert. Danach seien Pläne von Gedenkaktionen frühzeitig unterbunden worden: "Selbst wenn Angehörige der Opfer sich auf Friedhöfen trafen, wurde das durch den KGB dokumentiert."

Sowjetunion Michail Gorbatschow 1991, Rücktritt
Michail GorbatschowBild: Getty Images/AFP/V. Armand

Die Sicherheitskräfte sahen die Schuld für das Massensterben bei den Fans. Sie verschärften die Repression, mit Unterstützung des Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, in der auch etliche Fußballanhänger organisiert waren. Viele gemäßigte Fans bezeichneten diesen Druck als "Terror" und gaben ihr Hobby auf. Andere vernetzten sich im Untergrund und wurden gewalttätiger.

Auflösung der Sowjetunion lenkte ab

Ein Wandel wurde erst in der Perestroika angestoßen. "Unter Michail Gorbatschow hat die Sowjetführung versucht, lokale Initiativen zu fördern und offizielle Fanklubs zu installieren", sagt Manfred Zeller. "Zugleich war der harte Kern der Fangruppen bereits stark radikalisiert. Es war kaum möglich, zu differenzieren zwischen einer friedlichen und einer gewalttätigen Fankultur." Folgen, die bis heute spürbar sind.

Erst 1989 veröffentlichte die Tagesszeitung "Sowetzki Sport" einen großen Artikel über die Stadionkatastrophe in Moskau. Andere Medien folgten, doch die Auflösung der Sowjetunion lenkte den Fokus auf andere Probleme, der Sicherheitsapparat brach zusammen. Seit 1992 erinnert ein Denkmal an die Opfer, doch es fällt am Stadion nicht sofort ins Auge. Das WM-Finale könnte das Andenken zumindest ein bisschen bereichern.