Luftangriffe: Der türkische Holzhammer
17. Juni 2020Es kommt nicht alle Tage vor, dass behördliche Tweets martialisch klingen. Eine Meldung des türkischen Verteidigungsministeriums vom Beginn der Woche lässt sich allerdings nicht anders beschreiben. Per Kurznachrichtendienst Twitter teilte das Ministerium mit: "Die Operation Adlerkralle hat begonnen. Unsere Flugzeuge bringen die Höhlen über den Köpfen der Terroristen zum Einstürzen."
Gemeint waren Luftangriffe türkischer Streitkräfte in den Kandil-Bergen im Nordosten des Irak nahe der irakisch-iranischen Grenze und der Region Sinjar im Nordwesten des Irak nahe der syrischen Grenze. Das offizielle Ziel: mehr als 80 Stellungen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihrer Verbündeten.
Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar verfolgte die Angriffe live in der Kommandozentrale in Ankara. Er war nach den Luftschlägen voll des Lobes für die anwesenden Militärs: "Mit Ihrer Beteiligung, Ihren Opfern und Ihrem Heldentum wurde die Operation mit dem Codenamen 'Adlerkralle' mit großem Erfolg abgeschlossen. Terroristennester wurden ausgelöscht."
Von "illegalen" Bombardierungen spricht hingegen Kristian Brakel. Er leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in der Türkei. Aus seiner Sicht waren die Luftschläge im Nordirak Teil einer längerfristig angelegten Strategie des NATO-Mitglieds Türkei. Seit Ende des Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und der PKK im Sommer 2015 sei es das Ziel des türkischen Militärs, die PKK zurückzudrängen und so weit wie möglich zu schwächen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe schon häufiger verlautbaren lassen, "mit seinen Streitkräften bis in die Kandil-Berge vordringen zu wollen".
Zwar würden Militärexperten ein solch weites Vorrücken aufgrund des unwegsamen Terrains ausschließen, so Brakel. Dennoch bliebe die Grundidee bestehen, "die PKK permanent unter so hohen militärischen Druck zu setzen, dass es ihr nicht mehr möglich ist, Angriffe auf türkischem Territorium durchzuführen".
Blutigster Konflikt in der Geschichte der Republik
Die Furcht der Regierung in Ankara vor der PKK ist nicht unbegründet: Kaum ein innerer Konflikt hat die Republik Türkei in den vergangenen Jahren so erschüttert wie der sogenannte Kurdenkonflikt. Die PKK, die von der Türkei, den USA und der Europäischen Union als Terrorgruppe eingestuft wird, kämpft seit 1984 gegen den türkischen Staat.
Auf Anschläge der PKK folgen meist Gegenangriffe der türkischen Streitkräfte und umgekehrt. Über 40.000 Menschen sind bislang dabei ums Leben gekommen. Auch viele Zivilisten gehören zu den Opfern in dem Konflikt, der sich zu großen Teilen im Südosten des Landes abspielt.
Die Autorin Düzen Tekkal, eine jesidische Deutsche, fürchtet, dass durch die jüngsten Luftangriffe nun auch die Jesiden massiv in den Konflikt hineingezogen werden. Sie fordert ein Ende der Bombardierungen. Man sollte den Jesiden im Nordirak die Hoffnung geben, "nach dem Schrecklichen, das sie erlebt haben, weiterleben zu können", twittert Tekkal.
Der türkische Angriff in hat auch bei den Christen in der autonomen kurdischen Region im nördlichen Irak für Empörung gesorgt. Im Gespräch mit dem italienischen Pressedienst SIR verurteilte der chaldäisch-katholische Priester Samir al-Khoury insbesondere den Beschuss eines jesidischen Heiligtums, das sich auf dem höchsten Punkt der Sinjar-Berge befindet. Nicht einmal die Terrororganisation "Islamischer Staat" habe dort Schäden angerichtet, sagte Al-Khoury.
Auch die Gegend um das Flüchtlingslager Makhmour sei beschossen worden, so der Geistliche. Dort leben vertriebene Jesiden, die 2014 vor dem IS fliehen mussten, der sie als "Ungläubige" verfemte und brutal verfolgte. Laut Vereinten Nationen sind bis heute über 5000 jesidische Männer ermordet, bis zu 7000 Frauen und Kinder entführt und mehr als 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben worden. Zudem gibt es zahlreiche Berichte über sexualisierte Gewalt an Jesidinnen in der Gefangenschaft.
Dass die Türkei gezielt Bevölkerungsgruppen wie Jesiden oder Kurden auslöschen wolle, glaubt Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung nicht. Die Haltung der türkischen Streitkräfte zu möglichen zivilen Opfern der Luftschläge erinnert ihn eher an die Situation in der kurdischen Stadt Cizre während der Zeit des "Bürgerkriegs" im Jahr 2015: "Damals hat man die Altstadt einfach mit Artillerie beschossen. Wenn man so etwas macht, sterben eben Menschen, die unschuldig sind."
Es gebe eine offizielle Linie, alle militanten Gruppen auszulöschen. Wer bei der Bekämpfung dieser Gruppierungen im Weg stünde und sterbe, gelte als Opfer, das gebracht werden müsste. Einige Militärs, so Brakel, würden das vielleicht sogar bedauern: "Allerdings wäre die Alternative zu solchen Flächenbombardements beispielsweise ein mühsamer Häuserkampf. Dieser würde das Risiko ungemein erhöhen, das eigene Soldaten sterben. Also macht man das nicht."
Bundesregierung, EU und NATO bleiben stumm
Neben Autorin Tekkal hat allen voran der Grünen-Außenpolitiker Cem Özdemir die jüngsten Bombardierungen der türkischen Streitkräfte verurteilt. Per Tweet an Deutschlands Außenminister Heiko Maas forderte er Bundesregierung und EU-Kommission dazu auf, die Führung in Ankara zu maßregeln.
Auch Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung fände es wünschenswert, wenn die Luftschläge deutlich verurteilt würden. Allerdings sei das Problem mit der Türkei, "die außenpolitisch in vielen Bereichen inzwischen regelrecht mit dem Holzhammer draufhaut", dass diplomatische Appelle nicht mehr ausreichen würden. Die EU gelte in Ankara als eine Institution, in der zwar viel geredet, aber wenig gehandelt werde: "Die türkische Regierung ist der Meinung, dass man so wichtig für europäische Sicherheitsinteressen ist, dass ihnen im Prinzip nichts passieren kann."
Dass weder die Bundesregierung noch die Europäische Union noch die NATO derzeit eine wirkliche Antwort darauf zu haben scheinen, wie man mit der Türkei bei außenpolitischen Konflikten umgehen soll, lässt sich auch an der Anzahl der Reaktionen auf die jüngsten Luftschläge ablesen: Auch zwei Tage nach den Bombardierungen gab es weder aus Berlin noch aus Brüssel eine deutliche offizielle Reaktion.