Lässt Russland die Deutschen bald frieren?
11. Juli 2022Wie angekündigt ist am Montagmorgen die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 abgeschaltet worden. Die Buchungen sind, so ist es auf der Webseite des Betreibers zu sehen, ab 6 Uhr MESZ auf Null gefallen. Entsprechend wird nun kein Gas mehr in die Leitung gepumpt und der Lieferfluss wird versiegen. Nach Angaben einer Sprecherin der Nord Stream AG in der Schweiz werden mechanische Teile und automatische Systeme überprüft. Die Drosselung verstärkt in Deutschland die Ängste vor einem Energienotstand zum Herbst.
Post vom Energieversorger
Viele Mieter in Deutschland bekommen in diesen Tagen unerfreuliche Post. Hauseigentümer und Hausverwaltungen erhöhen wegen der dramatisch steigenden Energiepreise die monatlich zu zahlende Heizkosten-Pauschale. 100 Prozent Plus kündigt eine städtische Wohnungsbaugesellschaft in Berlin für den Teil ihrer rund 31.000 Wohnungen an, die mit Gas oder Öl geheizt werden.
Ob das reicht, ist nicht gesagt. Die hohen Energiepreise schlagen zeitverzögert durch, weil die Vorauszahlungen erst am Ende eines jeden Jahres mit den tatsächlich entstandenen Kosten verrechnet werden. Der GdW, ein Verband, in dem 3000 Wohnungsunternehmen in Deutschland zusammengeschlossen sind, hat errechnet, dass jeder Haushalt im kommenden Jahr bis zu 3800 Euro mehr für Energie einplanen müsse.
Sozialer Friede in Gefahr
Es gehe um ganz normale Menschen mit einem Einkommen, "mit dem nicht durch Verzicht auf den zweiten oder dritten Urlaub diese Steigerung mal so eben wegkompensiert wird", warnt der Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften. "Wir reden über familiäre Existenzen. Das muss die Politik endlich begreifen."
Nicht nur die steigenden Energiepreise lasten auf den Menschen. Die Inflation betrifft beinahe alles. Die Bundesregierung versucht, die Bürger finanziell zu entlasten, aber es gibt Grenzen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat schon klargemacht, dass kein Staat der Welt die bevorstehende Kostenlawine auffangen könne. "Wir werden nicht alle Preise runtersubventionieren können", betonte der Kanzler.
Kalt duschen und warm anziehen
Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia will in mit Gas geheizten Häusern die Heizungstemperatur in der Nacht auf 17 Grad Raumtemperatur reduzieren. Das würde den Verbrauch um acht Prozent senken, heißt es. Tagsüber werde wie gewohnt geheizt. Auch die Warmwasserversorgung sei von diesem Schritt nicht betroffen. Hier gebe es keine Einschränkungen beim Duschen oder Baden.
In Dippoldiswalde im Bundesland Sachsen sieht das anders aus. Dort informierte kürzlich eine Wohnbaugenossenschaft ihre Mieter, dass es künftig nur noch frühmorgens, mittags und abends warmes Wasser geben soll. Die Heizung werde bis September ausgeschaltet bleiben, wurde den Bewohnern in einem Aushang mitgeteilt. "Wie in der Mitgliederversammlung schon angekündigt, müssen wir jetzt für den Winter sparen."
"Die Leute sind schon weiter als die Politik in Berlin"
Nachdem ein Foto von dem Schreiben in den sozialen Medien auftauchte und dort für aufgeregte Diskussionen sorgte, beeilte sich Bundesbauministerin Klara Geywitz, die Beschränkungen rechtswidrig zu nennen. Der Deutsche Mieterbund wies darauf hin, dass fehlendes warmes Wasser ein Grund für eine Mietminderung sei.
Die betroffene Wohnungsgenossenschaft will sich davon nicht abschrecken lassen. Die Mieter hätten großes Verständnis signalisiert, sagte ein Vorstandsmitglied. Er sei froh, eine Debatte angestoßen zu haben, auch wenn das Unternehmen nun beschimpft werde. "Die Leute sind schon viel weiter als die Politik in Berlin", sagte der Vorstand der Deutschen Presse-Agentur.
Banger Blick auf Nord Stream
Hinkt die Politik den dramatischen Entwicklungen tatsächlich hinterher? Im Wirtschaftsministerium wurde die Klimaanlage schon vor Wochen ausgeschaltet, im Herbst soll weniger geheizt werden. Das könne man auch in den Ministerien der Länder und in Behörden machen, sagte Minister Robert Habeck am Freitag im Bundesrat, der Kammer der Bundesländer.
Fakt ist, dass die Abhängigkeit von russischem Gas in Berlin zu lange unterschätzt wurde. Das meiste fließt durch die Pipeline Nord Stream 1, die das Erdgas durch die Ostsee direkt hierher leitet. 2021 lag der Anteil russischer Gaslieferungen bei 55 Prozent, derzeit sind es laut Wirtschaftsministerium immer noch 35 Prozent.
Nur Wartung oder Lieferstopp?
Russland hat die Lieferung seit einiger Zeit drastisch gedrosselt und begründet das auch mit einer fehlenden Gasturbine von Siemens Energy, die in Kanada repariert wird. Wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen wollten die Kanadier sie nicht nach Russland liefern. Nun hat Kanada doch eine Ausfuhrgenehmigung für die Turbine erteilt - nach Deutschland, auf Vorschlag der Bundesregierung. "Wir begrüßen die Entscheidung unserer kanadischen Freunde und Verbündeten", teilte ein Regierungssprecher der Bundesregierung am Sonntag mit. Jetzt kann in Berlin entschieden werden, die Gas-Turbine weiter nach Russland zu transportieren.
Dass jetzt Nord Stream wegen Wartungsarbeiten ganz abgeschaltet wurde, lässt allerdings viele zweifeln: Werden die Russen die Pipeline nach den vorgesehen zehn bis 14 Tagen wieder aufdrehen? "Wenn die Turbine nach der Reparatur kommt, dann erlaubt das eine Zunahme der Umfänge", heißt es dazu aus dem Kreml. Ein Sprecher beteuerte, Russland setze sein Gas nicht als politisches Druckmittel ein. Doch genau das befürchtet die Bundesregierung, die Russland wegen der Drosselung einen "ökonomischen Angriff" vorgeworfen hatte.
Auf das Schlimmste vorbereiten
In Berlin hoffen sie das Beste, bereiten sich aber gleichzeitig auf das Schlimmste vor. Im Akkord werden Gesetze erlassen, um die Folgen der Knappheit und die Auswirkungen der steigenden Energiepreise abzumildern.
Im Energiesicherungsgesetz wird geregelt, dass zur Stromerzeugung künftig statt Gas- mehr Kohlekraftwerke genutzt werden können, damit das Gas zum Heizen verwendet werden kann. Bisher sollte im Sinne des Klimaschutzes stetig weniger Kohle verbrannt werden.
Neun Milliarden Euro für Uniper?
Zum anderen werden Hilfen des Bundes für angeschlagene Energieunternehmen erleichtert. Beispiel Uniper: Seit Mitte Juni erhält der Energieversorger, der wie kein anderer von russischen Gaslieferungen abhängig ist, nach eigenen Angaben nur noch 40 Prozent der vertraglich zugesicherten Gasmengen von der russischen Gazprom und muss Ersatzmengen zu deutlich höheren Preisen auf dem Weltmarkt beschaffen.
Das stürzt das Unternehmen in eine finanziell prekäre Lage, weswegen Uniper den Staat nun um finanzielle Hilfe gebeten hat. Neun Milliarden Euro sind im Gespräch. Vorbild wäre die staatliche Beteiligung an der Lufthansa auf dem Höhepunkt der Corona-Krise. Als es der Kranich-Linie wieder besser ging, konnte der Bund die Anteile wieder verkaufen und machte dabei sogar noch Gewinn.
Droht eine schwere Wirtschaftskrise?
Allerdings steigt die Zahl der finanziell in Not geratenen Energieversorger beinahe täglich. Wie groß kann ein finanzieller Schutzschirm für systemrelevante Unternehmen werden, ohne den Staat zu überfordern? Zumal auch Industrieunternehmen ihre Gasrechnung kaum noch bezahlen können.
"Unser Land steuert möglicherweise auf die schwerste Wirtschaftskrise seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland zu", warnte CDU-Chef Friedrich Merz im Bundestag. Es verzeichne die höchste Inflationsrate sei 30 Jahren, erstmals seit Jahrzehnten kippe die Handelsbilanz ins Negative, was bedeutet, dass Deutschland mehr Waren importiert als exportiert. Den deutschen Unternehmen drohe der endgültige Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, so Merz.
Konjunktureinbruch um zwölf Prozent
Das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos hat sich Ende Juni in einer Studie mit den Folgen eines kompletten Lieferstopps von russischem Gas beschäftigt. In diesem Fall müsste Deutschland mit den Lieferungen aus anderen Ländern und den bislang gespeicherten Gasmengen auskommen.
Innerhalb der ersten vier Wochen nach dem Lieferstopp dürfte das Gas nicht mehr für alle ausreichen, heißt es in der Studie. Da laut Gesetz vorrangig private Haushalte, soziale Dienste und Fernwärmelieferanten versorgt würden, beträfe der Stopp vor allem die Industrie. Branchen wie Stahl, Roheisen, Chemie und Glas würden besonders leiden, bei ihnen wären Produktionseinbrüche von rund 50 Prozent zu erwarten.
Betroffen wäre aber die ganze Volkswirtschaft. Prognos geht davon aus, dass beim Ausfall der russischen Gaslieferungen die deutsche Wirtschaftsleistung bis Jahresende um 12,7 Prozent einbrechen könnte. Zum Vergleich: In Folge des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 war das Bruttoinlandsprodukt im 2. Quartal um historische 9,7 Prozent im Jahresvergleich geschrumpft.
Der Artikel wurde am 8. Juli 2022 erstmals veröffentlicht und am 11. Juli 2022 aktualisiert.