Libanons Präsident hält Anschlag für möglich
7. August 2020Fahrlässigkeit oder Unfall - diese beiden Hypothesen wurden nach den verheerenden Explosionen in der libanesischen Hauptstadt früh geäußert. Staatspräsident Michel Aoun erwähnt nun ausdrücklich eine dritte denkbare Ursache. Auch ein Raketenangriff oder ein Bombenanschlag werde nicht ausgeschlossen, erklärte er.
Bislang stehen bei den Ermittlungen 2750 Tonnen hochexplosiven Ammoniumnitrats im Fokus, die der Regierung zufolge sechs Jahre lang ungesichert im Hafen von Beirut lagerten. Jetzt ließ Aoun mitteilen, die Untersuchung werde auf drei Ebenen geführt: Erstens werde geprüft, wo das hochexplosive Material hergekommen und wie es gespeichert worden sei; zweitens, ob die Explosion durch Fahrlässigkeit oder einen Unfall verursacht worden sei; und drittens, ob es einen "Eingriff von außen" gegeben habe.
Hafenmitarbeiter festgenommen
Seit Donnerstag sitzen 16 Hafenmitarbeiter in Polizeigewahrsam. Zuvor hatten die Behörden mehrere Personen, die für das zentrumsnahe Hafenareal verantwortlich sind, unter Hausarrest gestellt. Nach jüngsten Regierungsangaben wurden bei den schweren Explosionen am Mittwoch mindestens 154 Menschen getötet und etwa 5000 verletzt.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen verloren 300.000 Bewohner der Hauptstadt ihr Obdach, unter ihnen 80.000 Kinder. Mädchen und Jungen, die die Detonationen miterleben mussten, seien traumatisiert und stünden unter Schock, sagte die Landeskoordinatorin für das Kinderhilfswerk UNICEF im Libanon, Yukie Mokuo.
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden mehrere Krankenhäuser mit insgesamt rund 500 Betten beschädigt. Besondere Sorge bereite die Gefahr, dass sich das Coronavirus unter den gegebenen Umständen noch leichter ausbreiten könnte, sagte ein WHO-Sprecher.
Welle der Solidarität
Aus dem Ausland erreicht den Libanon eine Welle der Solidarität. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und das Welternährungsprogramm WFP weiten ihre humanitäre Hilfe aus. Viele Staaten haben verschiedenste Angebote unterbreitet und Experten an den Ort der Katastrophe geschickt. EU-Ratspräsident Charles Michel will am Samstag nach Beirut reisen, einen Tag, bevor eine internationale Konferenz akute Nothilfe für das schwer getroffene Land organisieren soll.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte die geplante Videoschaltung am Donnerstag angekündigt. "Der Libanon ist nicht allein", sagte er bei einem Besuch in Beirut. Zugleich verlangte er von der politischen Führung einen "tiefgreifenden Wandel". Ohne wichtige Reformen drohe das Land weiter im Chaos zu versinken.
Die Bundeswehr fliegt Soldaten und zivile Experten zur Unterstützung der deutschen Botschaft in den Libanon. Das Krisenunterstützungsteam könnte falls nötig auch bei einer Evakuierung deutscher Staatsbürger helfen, teilte ein Militärsprecher mit. Bereits am Mittwoch war ein Team des Technischen Hilfswerks entsandt worden.
Unmut über Misswirtschaft und Korruption
In der libanesischen Bevölkerung wächst derweil der Unmut über Misswirtschaft und Korruption. Viele Bürger sind überzeugt, dass die bestehenden Strukturen zu der Katastrophe beitrugen. In Beirut kam es am Donnerstag zu Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Beamten setzten Tränengas ein. Für Samstag haben Aktivisten zu neuen Protesten aufgerufen.
Der Libanon kämpfte schon vor den Explosionen mit der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Das kleine, wegen seiner Lage strategisch wichtige Land ist politisch tief gespalten. Der Iran gilt als Förderer der schiitischen Hisbollah-Miliz, die immer wieder das benachbarte Israel attackiert und die in Syrien an der Seite von Präsident Baschar al-Assad kämpft. Dem gegenüber steht das sunnitische Lager um Ex-Regierungschef Saad Hariri, das von Saudi-Arabien gestützt wird.
Zugleich versucht der Westen, den Libanon enger an sich zu binden. Frankreich nimmt dabei - als ehemalige Mandatsmacht bis 1941 - eine Schlüsselrolle ein. Präsident Macron wies allerdings bei seinem Besuch in Beirut Spekulationen zurück, wonach Paris die gewählten Vertreter in Beirut ersetzen wolle. "Es gibt keine französische Lösung", sagte er.
jj/qu (dpa, afp, rtr, epd)