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Wie ein "altes Ehepaar"

19. Februar 2010

Am Donnerstag (18.02.) hat US-Präsident Obama den Dalai Lama im Weißen Haus empfangen - und Peking ist empört. Der Wirbel um den Besuch ist auch Thema auf den Kommentarseiten der europäischen Tagespresse.

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Bild: DW

Die in Berlin erscheinende Zeitung "Die Welt" schreibt:

"Bisweilen erinnern Peking und Washington an ein altes Ehepaar, das seit Jahrzehnten mit seinen ritualisierten Scheidungsdrohungen allen auf die Nerven fällt. Auch das Treffen Barack Obamas mit dem Dalai Lama im Weißen Haus wird trotz wütender Racheschwüre der Chinesen nicht zerstören, was für beide Nationen und den Rest der Welt von enormer Bedeutung ist. Beleidigte Abstrafungen der USA wie gegen Dänemark, wo der Dalai Lama ebenfalls empfangen wurde, sind nicht in Pekings Interesse. Und Hillary Clinton hat früh klargestellt, dass die Rügen der Kommunisten durch Washington nicht die Gemeinsamkeiten belasten dürften. Dabei bleibt es. Man kann diese Haltung ehrliche Realpolitik nennen oder, wie es die Republikaner sehen, zynischen Ausverkauf von Amerikas Idealen."

In der Neuen Osnabrücker Zeitung heißt es:

"Obama lässt China toben. Und das ist seine Pflicht. Nicht nur weil China wieder die übliche Protest-Show bei Reisen des Dalai Lama abzieht. Menschenrechtspolitik darf nicht nach Marktlage betrieben werden - auch wenn die von der Wirtschaftskrise gebeutelten USA chinesische Investitionen bitter nötig haben. Demokratische Spielregeln dürfen nicht aufgegeben und auch die heikle Tibet-Frage muss im offenen Dialog geklärt werden."

Die britische linksliberale Zeitung Independent kommentiert:

"Washington scheint gegenüber China härter zu werden. Das Treffen zwischen Barack Obama und dem Dalai Lama im Weißen Haus war das neueste Zwicken der USA in den chinesischen Drachenschwanz. Es folgt der kürzlichen US-Waffenlieferung an Taiwan (...). Der Handel bleibt ein bedeutender Stein des Anstoßes zwischen den beiden Mächten (...). Chinas unverhüllte Quertreiberei beim Weltklimagipfel im Dezember in Kopenhagen hat nicht dazu beigetragen, die bilaterale Beziehung zu verbessern. War nun Obamas Entscheidung, das Oberhaupt der Tibeter trotz wütender Einwände Chinas zu treffen, hilfreich? Die Antwort ist vermutlich nein - aber es war trotzdem richtig. Der Dalai Lama ist das respektierte geistliche Oberhaupt der Tibeter, kein kompromissloser Separatist von Pekings Propaganda. Wenn Obama ein Treffen mit dem Dalai Lama unter dem Druck Chinas abgelehnt hätte, wäre das eine moralische Kapitulation gewesen, besonders im Licht der fortwährenden Menschenrechtsverletzungen in Tibet unter Chinas Herrschaft."

Die in Rom erscheinende linksliberale italienische Tagszeitung "La Repubblica" schreibt:

"Da umarmen sich zwei Friedensnobelpreisträger, aber weitab von den Medien, um nicht noch schlimmere Reaktionen aus Peking zu provozieren. US-Präsident Barack Obama hat dann jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen, weil er den asiatischen Giganten nicht verärgern wollte. Es war also eine delikate Begegnung im Weißen Haus. (...). Die Beziehungen Washingtons zu China, die noch vor wenigen Monaten auf dem Weg zu einer nützlichen Zusammenarbeit zu sein schienen (mit Träumen von einer G2-Allianz), sind in eine Serie von Turbulenzen geraten. Die Erklärung zum Treffen mit dem Dalai Lama ist damit ein Konzentrat diplomatischer Ausgewogenheit. Denn Barack Obama hat so eine Schadensbegrenzung gleich an mehreren Fronten versucht."

Im Züricher Tages-Anzeiger heißt es:

"Gefangen in einer Ideologie, die andere politische Systeme und Denkweisen nicht toleriert, fühlt sich die chinesische Führung berechtigt, geradezu hysterisch zu reagieren, wenn irgendwo der Dalai Lama empfangen wird oder Angehörige einer chinesischen Minderheit wie etwa der Uiguren politisches Asyl erhalten. (...) Peking verhielt sich - mit dem an Arroganz grenzenden Selbstvertrauen eines gefühlten Hegemons - kühl und abweisend. Umso wichtiger war es, dass Obama nun Rückgrat zeigte und mit dem berechtigten Selbstvertrauen, das seinem Amt und seinem Land gebührt, Zeichen setzte, sei es mit der Lieferung von Verteidigungswaffen an Taiwan oder dem endlich nachgeholten Empfang des Dalai Lama im Weißen Haus."


Autorin: Esther Broders
Redaktion: Nicola Reyk