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Latte für Selecao liegt hoch

Philipp Lichterbeck aus Rio de Janeiro
15. Mai 2018

Brasiliens Nationaltrainer Tite setzt für die WM in Russland vor allem auf Profis, die bei europäischen Vereinen spielen. Das Ziel liegt auf der Hand: Die "Schmach" von Belo Horizonte soll getilgt werden.

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Brasilien Fußball Nationaltrainer Tite
Nationaltrainer Tite präsentiert seinen 23-Mann-Kader für die WM in RusslandBild: picture-alliance/Zuma Press/L. Belford

Um das kleine Wunder zu begreifen, muss man noch einmal vier Jahre zurückzublicken. Für Brasilien schien an jenem 9. Juli 2014 die Welt untergegangen zu sein. Die Zeitungen erschienen ganz in schwarz, schrieben in riesigen Lettern von "Schande" und "Scham". Das Blatt "O Dia" titelte sogar: "Fahr zur Hölle, Felipao!" Gemeint war Brasiliens Fußballnationaltrainer Felipe Scolari, der das 1:7 seiner Mannschaft gegen Deutschland im WM-Halbfinale ohne jede Reaktion erduldet hatte. Weitere Sündenböcke waren schnell gefunden: der hüftsteife Angreifer Fred, die umher irrenden Verteidiger David Luiz und Dante, der glücklose Torwart Julio Cesar. Sie und all die anderen waren unter der Last der Erwartungen einer ganzen Nation zusammengebrochen, die nicht weniger als den WM-Titel gefordert hatte. Statt des Finaleinzugs erlebte der brasilianische Fußball damals in Belo Horizonte seinen Super-GAU.

Geflügeltes Wort

Viele wollten in der Niederlage sogar ein Abbild für den Zustand Brasiliens sehen: die Wirtschaft in der Rezession, die Politik korrumpiert, die Moral am Boden. Die Selecao wurde zum Sinnbild für die Misere des Landes. Ein geflügeltes Wort wurde damals geboren: "Mais um gol da Alemanha (Wieder ein Tor für Deutschland)", sagt man heute, wenn wieder etwas richtig schief läuft. Und dennoch, trotz allem, wäre Brasilien auch nicht Brasilien, wenn man sich hier lange mit der Vergangenheit quälen würde. Was dieses Land antreibt, ist der ständige Blick nach vorn und das Vertrauen auf bessere Tage. So auch nach dem 1:7.

Brasilien Belo Horizonte Fußball WM Halbfinale Deutschland vs Brasilien
1:7 gegen Deutschland bei der Heim-WM: Fernandinho verstand die Welt nicht mehrBild: picture-alliance/AP Photo/N. Pisarenko

"Von Gott gewollt"

Baute man in Deutschland nach den schlimmen internationalen Vorstellungen der Neunzigerjahre und der Katastrophen-EM 2000 in Portugal auf eine systematische Jugendarbeit, so hieß es in Brasilien einfach: Weiter so! Die Brasilianer verließen sich auf das schier unendliche Reservoir an hungrigen Talenten. José Trajano, legendärer Mitbegründer des Sportsenders ESPN Brasil, drückt es so aus: "Ihr Deutschen plant so einen WM-Titel. Aber wir Brasilianer haben die besten Fußballer der Welt, das hat Gott so eingerichtet."

Neymars nicht alleiniger Hoffnungsträger

Und so ist den Brasilianern nur vier Jahre nach der Fußball-Katastrophe scheinbar kinderleicht die Aufstellung eines Teams gelungen, das viele Beobachter bei der kommenden WM mindestens im Halbfinale sehen - insbesondere auch, weil Superstar Neymar seinen Mittelfußbruch erstaunlich schnell auskuriert zu haben scheint und schon wieder mit dem Ball jongliert. Natürlich wäre ein fitter Neymar der Fixpunkt des Teams. Doch im Gegensatz zu 2014 ruhen nicht mehr alle Hoffnungen auf ihm. Damals hörte man häufig zur Erklärung der deutschen Übermacht folgendes Bonmot: Argentinien hatte Messi, Portugal hatte Ronaldo, Brasilien hatte Neymar. Aber Deutschland hatte ein Team, die Mannschaft.

Frankreich Neymar verletzt auf dem Platz
Nach seinem Mittelfußbruch scheint Neymar rechtzeitig zur WM fit zu werdenBild: Reuters/S. Mahe

Hohe individuelle Klasse

Eine Mannschaft haben die Brasilianer nun auch. Und was für eine! Brasiliens Trainer Adenor Bachi alias Tite (gesprochen übrigens "Tschitsch") hat an diesem Montag seinen Kader mit 23 Spielern bekannt gegeben. Tite sagt, er hätte auch ohne Probleme 40 Spieler nominieren können. Zunächst einmal fällt da die rein individuelle Klasse der Spieler auf, die bei der WM 2014 noch nicht dabei waren, also quasi unbelastet vom 1:7 sind. In der Innenverteidigung die robusten Marquinhos (Paris St. Germain) und Miranda (Inter Mailand), davor auf der "Sechs" Casemiro (Real Madrid). Im Mittelfeld wie erwartet auf zentraler Position Coutinho (FC Barcelona) sowie der bislang eher im Verborgenen agierende Renato Augusto (Beijing Guoan). Schließlich im Sturm Gabriel Jesus, der einen maßgeblichen Anteil am englischen Meistertitel für Manchester City hat. Sie alle gelten als Kandidaten für die erste Elf, vier von ihnen standen mit ihren Vereinen mindestens im Achtelfinale der Champions League.

Unbeeindruckter Marcelo

Marcelo von Madrid
Bei Real Leistungsträger: MarceloBild: picture-alliance/dpa/A. Gebert

Zu den möglichen Anfangsspielern zählte Tite auch den erfahrenen (allerdings 2014 nervenschwachen) Innenverteidiger Thiago Silva von Paris St. Germain. Er wäre eine Alternative zu Marquinhos und Miranda, offenbar will Tite den Konkurrenzkampf ankurbeln.
Zu Tites wahrscheinlicher Startelf kommen drei WM-erfahrene Feldspieler hinzu: der vor Energie nur so sprühende Außenverteidiger Marcelo von Real Madrid, dem das 1:7 nie etwas ausgemacht zu haben schien, der bei Barcelona aufgeblühte Paulinho und natürlich Neymar, der genau weiß, dass er zu wahrer Größe mindestens einen WM-Titel nach Brasilien holen muss. Wer für den unglücklich ausgefallenen Außenverteidiger Dani Alves auflaufen wird, muss abgewartet werden. Es ist ein schmerzlicher Verlust für Trainer Tite. Am ehesten dürfte ihn Danilo (Manchester City) ersetzen.

Taison überraschend dabei

Liverpool v AS Rom - UEFA Champions League  Firmino
Erfolgreich mit Liverpool: FirminoBild: picture-alliance/empics/M. Rickett

Nun heißt es ja, dass jedes Team letztendlich nur so gut ist wie seine Reservebank. Genau hier liegt eine der großen Stärken der brasilianischen Auswahl. In den meisten anderen Teams gehörten ihre Ersatzleute zur festen Auswahl: die Mittelfeldleute Fernandinho (ManCity) und Fred (Schachtar Donezk und nicht zu verwechseln ist mit dem "Pech-Fred" von 2014). Hinzu kommen der schnelle Außenstürmer Willian (Chelsea) sowie die dribbelstarken Angreifer Douglas Costa (Juventus Turin) und der Ex-Hoffenheimer Roberto Firmino, der mit dem FC Liverpool im Champions-League-Finale steht. Ein weiterer Angreifer ist Taison von Schachtar Donezk - die größte Überraschung, die Tite bereithielt.

Ex-Kölner Geromel im Kader

Weniger überraschend kam die Berufung von Abwehrspieler Pedro Geromel (Gremio Porto Alegre, ehemals 1. FC Köln). Geromel sowie Verteidiger Fagner und der dritte Torwart Cassio (beide bei Corinthians) sind die einzigen Spieler im brasilianischen Kader, die in Brasilien ihr Geld verdienen. Apropos Torwart: Ein weiteres Merkmal für die neue Klasse der Selecao sind die Torhüter. Keine Wackelkandidaten, sondern mit Alisson (AS Rom) und Ederson (ManCity) zwei Champions-League-erfahrene Spieler.

Tite verordnet medienfreie WM-Tage

Brasiliens Sportmedien sind nun voll des Lobs für Trainer Tite. Als der 56-Jährige Mitte 2016 die Selecao übernahm, stand sie auf Platz sechs der südamerikanischen WM-Qualifikation. Es folgten zehn Siege, zwei Unentschieden und ein dominantes Auftreten gegenüber Rivalen wie Argentinien, Uruguay und Kolumbien. Tite schaffte es binnen kurzer Zeit, ein Team zu formen, anstatt eine bloße Ansammlung von einem Star und vielen Sternchen aufs Feld zu schicken. Das Ergebnis: Mit 41 Toren und elf Gegentoren hatte Brasilien den mit Abstand besten Sturm und die beste Abwehr Südamerikas.

Testspiel Deutschland - Brasilien in Berlin
Noch ohne Neymar - die Selecao, die im März gegen Deutschland gewannBild: picture-alliance/DPPI Media/L. Lairys

Soll Tites Vorgänger Dunga die Spieler enorm unter Druck gesetzt haben, so hat Tite ihnen Selbstvertrauen und Spaß zurückgegeben. Er gilt als seriöser, konzentriert arbeitender Typ ohne Extravaganzen. Dazu passt seine Ankündigung, dass es in Russland fünf medienfreie Tage geben werde, an denen die Selecao der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung stehe. Angesichts der hungrigen brasilianischen Medien, die wieder mit einem Großaufgebot in Russland dabei sein werden, ist das ein mutiger Schritt. Aber die Mannschaft wird es ihm danken.

Solide Abwehr, schneller Sturm

Seine Aufstellung, so hat Tite immer wieder klar gemacht, folge einzig den Bedürfnissen des Teams. Namen spielten keine Rolle. Diese Fairness sichert ihm im Gegensatz zu Felipe Scolari und Dunga den Respekt und die Zuneigung der Spieler. Tites Konstanz zeigt sich auch darin, dass er lediglich zwei taktische Systeme variiert. Entweder lässt er ein 4-1-4-1 spielen oder ein 4-2-3-1. Er wollte offenbar nicht den Fehler begehen, in kurzer Zeit zu vielen Varianten auszuprobieren. Auffällig dabei ist vor allem, dass Tite in beiden Systemen Wert auf eine solide Abwehr und schnelle Vorstöße legt. Dass er gleich vier Angreifer nominiert hat (rechnet man noch Douglas Costa dazu, wären es sogar fünf), lässt ein selbstbewusst attackierendes Team erwarten.

Auch dank dieses Trainers war es also keine ängstliche Mannschaft, die Ende März im Berliner Olympiastadion 1:0 gegen Deutschland gewann. Viel war vorher vom 1:7 die Rede gewesen. Aber Tite betrachtete das Spiel wohlweislich nicht als Revanche, sondern lediglich als "Chance, die Mannschaft psychologisch zu stärken". Genau das ist ihm geglückt.

Freundschaftsspiel Deutschland gegen Brasilien
Brasiliens Nationalelf tankte beim 1:0 in Berlin gegen Deutschland Selbstvertrauen für die WMBild: Reuters/F. Bensch

Ziel: WM-Sieg

Gibt es für die Brasilianer so etwas wie Wiedergutmachung für die "Schande" von Belo Horizonte? Viele antworten darauf: ein Sieg bei der WM 2018. Die Latte für die Selecao hängt also enorm hoch. Sie hat nicht nur schönen Fußball zu spielen, sondern quasi eine patriotische Pflicht zu erfüllen. Sie soll Brasilien, dieser so tief in Arm und Reich, Rechts und Links gespaltenen Nation etwas schenken, worauf man gemeinsam stolz sein kann. Die Chancen, dass sie bei dieser Aufgabe weit kommen wird, stehen nicht schlecht.