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Das Gespräch führte Marcio Weichert.10. Januar 2003

Mehr Pep in der Politik - Brasilien will nach vorne. Marco Aurélio Garcia, außenpolitischer Berater des neuen Präsidenten Lula, erklärt im Interview mit der Deutschen Welle, wie der Kurs seines Landes aussehen soll.

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Viele deutsche Firmen produzieren in São Paulo - das soll so bleibenBild: AP

In Porto Alegre (im Süden Brasiliens) geboren, ist Marco Aurélio Garcia, 61, Professor für Geschichte an der Landesuniversität Campinas im Bundesstaat São Paulo. 1980 hat er die Arbeiterpartei PT mit begründet. Da er zehn Jahre lang Sprecher für Internationale Beziehungen der Partei war, gilt er als der wichtigste Mentor der Außenpolitik der PT. Trotzdem wurde nicht er zum Außenminister der Lula-Regierung ernannt – dieses Amt übernimmt der Tradition gemäß ein Diplomat, diesmal Celso Amorim. Marco Aurélio Garcia war bereits Stadtverordneter in Porto Alegre und Kulturdezernent in der Stadt São Paulo (2001-2002).

Was ändert sich in der brasilianischen Außenpolitik?

Es werden die Prioritäten, der Stil und der Ton verändert. Priorität werden die Nachbarn haben, das heißt Südamerika. Wir werden eine aktivere, souveräne und bejahende Politik haben. Wir wollen einen viel schnelleren Rhythmus haben, sodass die Außenpolitik als Plattform dient, die im Land stattfindenden Wandlungen international zu projizieren, während die internationale Szene uns bei der Durchführung der in Brasilien notwendigen Reformen unterstützt.

Welche Themen werden die Außenpolitik bestimmen?

Selbstverständlich haben wir großes Interesse daran, die internationalen Zwänge zu beseitigen — seien sie wirtschaftlicher oder politischer Natur —, welche die Entwicklung unseres Landes heutzutage erschweren. Natürlich wollen wir auch die von uns vertretenen Werte international verteidigen und verbreiten: Frieden, Solidarität, Sozialgerechtigkeit, die Suche nach Lösungen für Konflikte durch Verhandlung, die emphatische Bejahung des Pluralismus, der Multilateralität und der Menschenrechte.

Welche Stellung wird die Regierung zur Globalisierung nehmen?

Die Globalisierung ist ein objektives Phänomen. Es hat eine Internationalisierung der Produktion, der Finanzmärkte und des Konsums stattgefunden, auch wenn diese Internationalisierung des Konsums in vielen Fällen auf bestimmten Weltregionen beschränkt blieb. Dass die Finanzthemen bei der Globalisierung dominierend waren und unser Verhalten dabei vielfach irreführend gewesen ist — sodass am Ende die Entwicklungsländer die größte Last zu tragen haben —, das hat uns die Entwicklung erschwert.

Wie sehen Sie die Situation in Venezuela?

Ich habe die Lage vor Ort beobachtet. Sie ist wirklich sehr schwierig, sehr komplex, und bedroht die Stabilität der Region. Wir sind für eine friedliche Lösung mittels Verhandlungen und unter absoluter Achtung der Verfassung. Deshalb halten wir Gespräche mit dem Präsidenten Chávez, der verfassungsmäßigen Regierung Venezuelas. Wir verteidigen die Rolle der OAS (Organisation der Amerikanischen Staaten), die zurzeit Versuche unternimmt, zu einer politischen Lösung zwischen Regierung und Opposition zu gelangen.

Zusätzlich zum Verkauf von Benzin an Venezuela hat dessen Präsident Chávez Lula gebeten, Erdölarbeiter zu entsenden, um die streikenden Venezolaner zu ersetzen. Wird Lula der Forderung nachkommen?

Die Forderungen werden an die Petrobras weitergeleitet. Erstens muss klar sein, dass wir nur handelsübliche Transaktionen machen. Es handelt sich nicht um Erdölspenden und auch nicht um kostenlose Dienstleistungen. Es sind also profitable Geschäfte für das Staatsunternehmen. Gleichzeitig folgen die Maßnahmen dem Ziel, den Versorgungsmangel in Venezuela zu mindern und eine Entspannung des sozialen und politischen Klimas zu erreichen, sodass die Verhandlungen begünstigt werden können.

Das heißt also, dass Mitarbeiter der Petrobras eventuell die streikenden Erdölarbeiter in Venezuela ersetzen werden?

Es geht nicht darum, Streikende zu ersetzen. Es gibt Gruppen, welche die Boote besetzt halten, die die Arbeit verweigern - und andere, die durch Aussperrung an der Arbeit gehindert werden. Die Fälle werden im Einzelnen überprüft.

Die PT hat sich immer gegen die Politik des IWF gestellt. Letztlich hat die Partei aber versprochen, die Abkommen mit dem Fonds zu respektieren. Was hat sich in der Ansicht der PT geändert und wie wird sich die neue Regierung zum IWF verhalten?

Eine Sache ist die Kritik an der vom Internationalen Währungsfonds bisher durchgeführten Politik. Und an dieser Kritik halten wir weiterhin fest. Eine andere Sache ist die Verpflichtung als Regierung, vorhandene Abkommen zu respektieren. Man kann trotz allem verpflichtet sein, Schulden mit horrenden Zinsen bezahlen zu müssen, weil man diese Verpflichtung selbst eingegangen ist. Der IWF selbst beginnt, angesichts seiner armseligen Ergebnisse in Lateinamerika, seine Politik in Frage zu stellen.

São Paulo ist der wichtigste Standort der deutschen Industrie im Ausland. Was will Lula ändern in Bezug auf die ausländischen Investoren?

Wir können versprechen, es wird einen gesunden Wirtschaftsraum geben, in dem die Investitionen so rentabel wie möglich sind, vorausgesetzt, diese Rentabilität wird hauptsächlich durch Produktion erwirtschaftet.

Die Krise in Argentinien hat den Freihandel im Mercosur gelähmt. Macht er noch Sinn?

Der Mercosur hat mehr denn je eine Existenzberechtigung, im Sinne der grundlegenden Notwendigkeit, die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Kultur-, Wissenschafts- und Technologiepolitiken zu bündeln, um einen starken gemeinsamen Wirtschaftsraum mit eigenen politischen Institutionen —ähnlich der EU — aufbauen zu können.

In Europa scheint das Interesse an Lateinamerika immer geringer zu werden. Was müssen die südamerikanischen Länder machen, damit die Europäer sich wieder um die Region kümmern?

Zuerst muss Lateinamerika sich in ein Gebiet mit effektivem Wirtschaftswachstum, Sozialgerechtigkeit und gestärkten Demokratien umwandeln. Das ist unerlässlich, damit nicht nur die Europäer, sondern die ganze Welt wieder auf Lateinamerika schaut. Das erfordert auch sehr viel diplomatische Arbeit, eine sehr aktive Außenpolitik.

Die Verhandlungen zwischen Mercosur und EU schleppen sich. Haben sie weiterhin Priorität? Wie kann man sie voranbringen?

Klar sind sie eine Priorität. Wir im Mercosur müssen so schnell wie möglich zusammenkommen und eine gemeinsame Agenda für die Wiederbelebung des Mercosurs erarbeiten, in der eine gemeinsame Außenpolitik unerlässlich wird.

Brasilien hat in Deutschland einen Partner im Kampf gegen die Agrarsubventionen der EU. Wie können beide Länder zusammen agieren?

Die Beziehungen Brasiliens zu Deutschland umfassen mehrere Sektoren. Nach der Vereidigung hat Lula den deutschen Staatssekretär im Finanzministerium, Caio Koch-Weser, empfangen. Wir haben Themen wie die Agrarsubventionen diskutiert, aber auch Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit im Produktionsbereich. Deutschland hat große Investitionen in Brasilien, und wir möchten, dass es so bleibt.

Das wäre der Kern der bilateralen Beziehungen?

Ja, aber wir haben andere Gemeinsamkeiten politischer Natur. Brasilien und Deutschland setzen sich gemeinsam für Frieden, die internationale Solidarität, politische Lösungen bei internationalen Konflikten wie auch für die Bekämpfung des Terrorismus, des Elends und der Hungersnöte ein. Deutschland kann sich mit Brasilien in Dreiecksoperationen für die Unterstützung der Länder in Afrika — insbesondere im portugiesischsprachigen Raum — zusammentun.

Wie kann Deutschland Brasilien helfen, die Wirtschaftskrise und die Kluft zwischen Armen und Reichen zu überwinden?

Erstens: mehr deutsche Investitionen im Produktionsbereich. Zweitens: Deutschland soll die Kreditlinien zur Verfügung stellen, die wir für die Forderung unserer Exporte sehr brauchen. Drittens: eine engere Zusammenarbeit im Wissenschaftswesen. Viertens: Deutschland soll auch zu unseren Sozialprogrammen einen Beitrag leisten. Letztlich alles, was zu einer soliden diplomatischen Politik gehört.

In Brasilien gibt es immer mehr Felder, auf denen genmanipulierte Pflanzen angebaut werden. Andererseits wächst in Deutschland die Nachfrage nach Bioprodukten. Welche wird die Priorität der Regierung Lulas?

Lula verteidigt eine Politik für die Biolandwirtschaft. Wir werden uns daran halten. Wir sollten von der europäischen Nachfrage mehr profitieren und zeigen, dass die Bioagrarproduktion auch eine sehr wichtige Rolle in der Wirtschaft spielen kann.

Wegen der Energieversorgungskrise im Jahr 2001 hat die Regierung Cardoso das Projekt des Atomkraftwerks Angra 3 aus der Schublade geholt, das aus einem deutsch-brasilianischen Abkommen der 70er-Jahre stammt. In Deutschland ist der heutige Trend, die Atomkraftwerke stillzulegen. Wird Lula die Pläne für Angra 3 vorantreiben?

Die Regierung wird das Projekt noch überprüfen. Wir verfügen noch nicht über alle Elemente für eine Entscheidung.

Mexiko bedroht die Rolle Brasiliens als wichtigster lateinamerikanischer Handelspartner Deutschlands und der EU. Was will Lula unternehmen, um die brasilianische Position gegen die anderen lateinamerikanischen Konkurrenten zu verteidigen?

Erstens: Wir müssen die Rentabilität unserer Wirtschaft erhöhen, damit unsere Exporte wettbewerbsfähiger werden. Zweitens: Wir müssen alle Steuer- und Kredithindernisse, die unsere Ausfuhren erschweren, abbauen. Gleichzeitig sollten wir bei der Suche nach neuen Märkten für die brasilianischen Landwirtschafts- und Industrieprodukte sowie für die Dienstleistungen sehr kühn vorgehen.

Vor ein paar Monaten hat Lula gesagt, Alca (die amerikanische Freihandelszone) wäre ein Versuch Washingtons, den Rest Amerikas zu annektieren. Zuletzt hat Lula zugesichert, Brasilien werde weiterhin an den Verhandlungen teilnehmen. Welches Interesse hat die neue Regierung an der Alca? Ist es größer oder kleiner im Vergleich zu einem Abkommen mit der EU?

Wir wollen interamerikanische Abkommen, die bilateral sein dürfen. Andererseits wollen wir eine starke Partnerschaft zur EU. Uns sind die Beziehungen zu Nordamerika und zur EU gleich wichtig.

Aber gibt es nicht eine Priorität, welche zuerst verwirklicht werden sollte, EU oder Alca?

Das hängt von der Agenda ab. Gewissermaßen sollten die Verhandlungen mit der EU zuerst abgeschlossen werden, aber wenn sie gebremst werden, kann es sein, dass die für die Bildung der Alca beschleunigt werden.

Als sozialistische Partei pflegte die PT Beziehungen zu kommunistischen Parteien Osteuropas, inklusive der SED. Zur Zeit des Mauerfalls waren sogar PT-Funktionäre im Rahmen von Austauschprogrammen in diesen Ländern anwesend. Was hat die PT aus der kommunistischen Erfahrung und aus dem Mauerfall gelernt?

Die PT war schon bei ihrer Geburt kritisch gegenüber dem Kommunismus und der europäischen Sozialdemokratie mit ihrer klaren Neigung zum Neoliberalismus, die sich schon damals abzeichnete. Wir sind als eine pluralistische Partei entstanden, von den demokratischen Werten sehr geprägt, und genau deswegen auch sehr kritisch gegenüber den Erfahrungen des so genannten Realsozialismus. Dass einige PT-Aktivisten in der DDR waren, als die Mauer fiel, bedeutet nicht, dass unsere Partei solidarisch mit dem Regime oder aber von den dort herrschenden Ideen überzeugt war. Im Gegenteil: Zur selben Zeit hatten wir Delegationen nach Westdeutschland, Schweden, Dänemark und Frankreich entsandt, was wiederum nicht bedeutet, dass unsere Partei der Kapitalismus-Ideologie oder den Ideen der Sozialdemokratie verpflichtet wäre.

Zu welchen deutschen Parteien pflegt die PT gegenwärtig Beziehungen?

Wir haben Beziehungen zu der SPD, den Grünen und der PDS. Die Beziehungen zur SPD sind wegen langjährigen der Präsenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien enger.

Die Regierung Cardoso hat versucht, ein Freihandelsverfahren mit China zu starten, aber Peking hat es abgelehnt. Wird es von Lula eine gezielte Politik für China geben?

Diese Politik wird noch aufgebaut, aber Lula hat schon nach seiner Vereidigung den Außenhandelsminister Chinas empfangen, und sie haben ausführlich über viele Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit - nicht nur was den Handel angeht, sondern auch in der Wissenschaft und der Technologie - gesprochen.

Welche Rolle spielt Russland in der brasilianischen Außenpolitik?

Keine so wichtige wie China, aber eine sehr ähnliche. China befindet sich in einer Phase von starkem Wachstum und Innovationen, was wir mit Interesse beobachten. Russland leidet noch unter den Folgen des Übergangs vom Realsozialismus zu einer anderen Wirtschaftsform.